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Full text of "Finsteraarhornfahrt"

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Finsteraarhomfahrt. 



Von 



Abraham Roth. 



Mit einer Abbildung des Finsteraarhorns 

und 
ciur larte 4er Fiasleraarhoni - QtgmU. 



ns 



Berlin, 1863. 

Verlag von Julius Springer. 



WaJther Schnitze 

Dr. phü. 






Inhalt 



Solte 

Einleitung . . . ' 1 

Eine Nacht und ein Tag U 

's schön Anneli 27 

Das Hörn 73 

Irrfahrten 98 

Schluss 111 



Einleitung. 

Einige Tage nach unserer im Sommer 1860 be- 
werkstelligten Ersteigung des Wetterhoms*) schlen- 
derten mein Hauptfiihrer und ich zwecklos im Roßen- 
lauithal herum und freuten uns unseres Daseins. Es 
lässt sich nirgends so schön bummeln, wie am Strande 
der Seen und auf hohen grünen Bergen, den blauen 
Wasserspiegel oder den weissen Firn im Gesicht. Wir 
lagerten uns iü den Schatten eines Ahorns und staunten 
noch einmal nach den prächtigen Massen des Wetter- 
homs, um die Wanderung in der Erinnerung zu wie- 
derholen. 

— Was meint Ihr, Kaspar? wenn man einmal den 
da überwunden hat, so kommt man noch auf manches 
andere Berglein hinauf? 

— Denk' wohl. 

— Ich bin zufrieden mit Euch, und wenn Ihr's 
mit mir ebenso seid, dann können wir zusammen einen 



*) Siebe des Verfassers „Gletscherfahrten in den Bemer Alpen ** 
Berlin, Springer. 1861. 

R t h j Flnstferaarhornfnhrt. 1 



— 2 — 

Blick in die Zukunft werfen. Welchen sollen wir das 
nächste Mal d'ran kriegen? 

— Wer glücklich auf das Wetterhom gekommen 
ist, hat sich vor dem Finsteraarhom nicht zu furchten. 

— Sapperment,. Ihr wollt mich g'rad' auf den 
Allerhöchsten spediren? Das ist denn aber doch ein 
anderer Kamerad. 

— Höher, aber nicht wüster. 

— Kennt Ihr ihn? War't Ihr schon oben? 

— Oben noch nicht; aber d'rum herum habe ich 
gejagt, und ich fand, dass er eine anständige Höhe hat, 
auch von drei Seiten schauderhaft stotzig ist, von der 
vierten aber für unser Einen so zugänglich, wie ein 
sprödes Meidschi, dem man vom Heirathen spricht. 
Trotzdem wäre ich der Meinung, wir sollten zu dieser 
Arbeit den alten Jaun mitnehmen. 

Den alten Jaun kannte ich bereits von Ruf. Er 
war auch einer jener kühnen Führer von Agassiz, 
denen kein Geier zu hoch in der Luft, kein Teufel zu 
tief in der Hölle, sie packten ihn doch , und was mir 
ein Bekannter einst über ihn aus einer Wetterhorn- 
besteigung mitgetheilt, gewann mich vollends für den 
Mann. Eine kleine Karavane stieg von der Lauteraar 
aus nach dem genannten Berg, und der Weg führte 
irgendwo über eine sehr abschüssige, schwindlige Fel- 
senwand, bei deren Ueberschreitung einer der Reisen- 
den schon im Aufsteigen sich keine Lorbeeren holte» 
Auf der Rückkehr an die nämliche Wand gelangt, war 
der Unglückliche so sehr von Müdigkeit erschöpft und 
vom Schwindel verwirrt, dass er die Führer in die 
grösste Verlegenheit setzte. An ein Tragen des Man- 
nes war auf der äusserst schmalen Passage nicht zu 
denken, der Reisende selbst aber bat mit dem Jammer 
des Verzweifelnden, der lieber thatlos dem sicheren 



— 3 — 

Tod in's Auge starrt, als mittelst einer Kraftanstren- 
gung sich zur Bettung hindurcharbeitet, man möge ihn 
doch ja um Gottes Willen seinem Schicksal überlassen, 
über die schaurige Wand komme er in keinem Falle 
mehr. Auf dieses wird Jaun wild, und der Zorn gibt 
ihm seinen Entschluss ein. Er fasst das nächstliegende 
Seil und windet es drei, vier Mal fest um den Leib 
des Touristen; wie der Knoten geschürzt ist, packt er 
seinen noch liegenden Mann mit nerviger Faust am 
Kreuz, hebt ihn mit einem den Schwingern wohlbe- 
kannten Ruck in die Luft, stellt ihn auf die Beine, 
Front gegen den Abgrund, und donnert ihn von hinten 
an: „Vorwärts, Herr! Beide oder Keiner." Dem über- 
raschten Beisenden ist es, der Satan habe ihn am 
Kragen; halb schwebend, halb gehend fühlt er sich in 
die entsetzliche Wand hinausgestossen, vor den Augen 
flimmert's ihm, aber — gleich als wäre aus dem zu 
eisernen Sehnen angeschwollenen Arm des Führers fein 
elektrischer Strahl in ihn gefahren — die Beine tragen 
ihn doch und zappeln maschinenmässig fort ; Jaun hält 
sich indessen mit der Linken am zackigen Felsen und 
stösst mit der Rechten sein Opfer unaufhaltsam vor 
sich her. Eine oder zwei Minuten dauerte die wag- 
halsige Tour, bei welcher die nächste Möglichkeit aller- 
dings die war, dass alle Beide in den Abgrund rollten. 
Der Himmel aber segnete die rettende That. 

Man begreift, dass ich, dieses Stückleins mich 
erinnernd, meinem Führer antwortete: 

— Sprecht mit dem Jaun, der Mann gefällt mir. 

Manche Woche war seit dieser Verabredung, die 
im folgenden Jahr erst zur Ausführung kommen sollte, 
verstrichen, und man sah die Vorberge der Alpen 
bereits mit leisem Schnee bekleidet, als Kaspar seinen 
üblichen Herbstgang in die Stadt herunter machte, 



— 4 — 

beladen mit der gewohnten Beute von Kristallen und 
geschossenen Vögeln. Schon von weitem bemerkte ich, 
dass in der Zwischenzeit mit dem jungen Mann eine 
Veränderung vorgegangen sein musste: vom Kopf bis 
zum Fuss trug er sich neu in dunkelgrauem Grobtuch, 
und auf den Schnitt des Wamses schien eine besondere 
Sorgfalt verwendet; unter dem übergeschlagenen weissen 
Hemdkragen hervor schaute mit langen Zipfeln ein 
schwarzseidenes Halstuch, den Knoten so zierlich ge- 
schürzt, wie ihn nur eine weibliche Hand zu gestalten 
vermag. Aus dem Gesicht aber strahlte die helle 
Fröhlichkeit. 

— Was ist's mit Euch, Kaspar? Ich wette Zwanzig 
an Eins, Ihr habt einen Schatz. 

— Nein, eine Frau. 

— Herrschaft von Mannheim! geht es im Ober- 
land auch schon' per Eisenbahn? Na, da ist wieder 
einmal ein stilles Wasser tief gewesen. Wer hätte 
Euch solche hochverrätherische Gedanken zugetraut! 
Im Uebrigen gratulire ich und nehme an, es wird ein 
gelungenes Meiringer Kind sein. 

— Nit bös. 

— Ah, jetzt finde ich ein Indicium. Ihr ver- 
glichet mir diesen Sommer das Finsteraarhorn mit 
einem Mädchen, das durch Heirath zu erobern ist. 
Damals kam mir das Bild etwas kühn vor, jetzt be- 
greife ich's aber. Kaspar, Schlaufuchs, erfahrener 
Mann! damals schon war der Teufel los, he? 

— Mich wundert, Herr, wie Euch die ganze Ge- 
schichte so neu vorkommt. Habe ich Euch nicht in 
der Nacht, als wir zum Wetterhorn aufbrachen, gesagt, 
dass ich die ganze vorherige Nacht auf der Steinalp 
tanzte? Ich that es, obgleich ich wohl wusste, welche 
Pflichten mich bei Euch erwarteten. Glaubt Ihr, 



H 



- 5 



man lege sich solche Strapazen auf wegen eines Hag- 
steckens? 

— Gut, gut. An Euch haben sich die Worte des 
Dichters erprobt: 

„Kfllin ist das Mühen, 
Herrlich der Lohn.'* 

Noch einmal , ich gratulire und bitte mich . für das 
nächste Mal bei Eurem Frauchen zu Gaste. — Nun 
aber berichtet mir — was sagt der alte Jaun zu unse- 
ren Plänen? 

— Der sagt nichts mehr. 

— Wie so? 

— Er ist todt. 

— Wird nicht sein! Er ist doch nicht verun- 
glückt? 

— Nein, eines ordinären Todes gestorben, krank 
im Bett. Gott habe ihn selig. Wegen des Alters hätte 
er's aber noch ein paar Jährchen aushalten können. 
Es ist nicht recht von unserem Herrgott, dass er die 
braven Menschen so oft vor den schlechten sterben 
lässt; wenn ich Meister wäre, würde ich zuerst mit den 
Hallunken aufräumen. 

— Nun geht unsere Finsteraarhornfahrt wohl zu 
Wasser? 

— Du tout, sagt der Franzos. 

— Aber wie wollt Ihr's nun anstellen? Ihr wäret 
ja nie oben und Eure Brüder, der Menk und der Jakob, 
die ich gerne wieder dabei hätte, auch nicht. 

— Pah; denen, die zum ersten Mal oben waren, 
hat auch Niemand den Weg gezeigt. Ich garantire, 
dass wir hinauf kommen, wenn uns das Wetter keinen 
Strich durch die Rechnung macht. 

Ich wusste, dass, wenn Kaspar mit solcher Be- 
stimmtheit etwas behauptete, darauf zu bauen war 



— G — 

wie auf Granit. Insofern beruhigte ich mich. Allein 
bald darauf stieg mir das neue Bedenken auf: 

— Was sagt Euer junges Weibchen zu solchen 
Fahrten? 

— Was sollte sie sagen? Als sie mich nahm, 
wusste sie, dass sie einen Mann heirathete, der Jagen 
und Bergsteigen liebt wie sein Leben; nun soll sie 
mich auch als solchen behalten. Mag sein, dass es 
ihr manchmal im Herzchen krabbelt, wenn ich mit der 
Büchse auf der Schulter auf einige Tage fortziehe. 
Das geht nun einmal bei dem Weibervolk nicht an- 
ders, und eint' oder anderes Mal ist's mir beim Ab- 
schied fast auch etwas curios zu Muthe. Früher spürte 
ich nichts von dem. Aber 's hilft nichts, gejagt muss 
sein, über alle Berge gesprungen und dem Teufel ein 
Ohr abgeschliffen; so bin ich und will ich bleiben bis 
in Ewigkeit. Amen. 

— Und mich will bedünken, wenn bei solchen 
Gelegenheiten in der einen Herzkammer des Weibchens 
die Sorge prickelt, so ruft von der andern her die 
Eitelkeit: „Herein!" und sagt dann zur Sorge: „Thu' 
nicht so dumm; es ist doch auch ein anderlei, einen 
Mann zu haben, der etwas kann, was nicht jeder 
Schneider kann, der mit Gesundheit und Kraft etwas 
vorstellt in der Welt, als so ein Ofenhüter, der jeden 
zweiten Tag in die Apotheke schleicht." 

— Exact das mein' ich auch. 

— Unsere Frauen sollen leben! 

— Und das Finsteraarhom daneben! 
Beide: Hoch! hoch! hoch! 



Eine Nacht und ein Tag. 

Sonntags, den 28. Juli 1861, hatte ein feiner Südost 
die Alpen von Wolken und Nebeln reingefegt und 
eröffnete damit jene Reihe prächtiger Monate, welche 
den Sommer und Herbst dieses Jahres in jeder Bezie- 
hung zu gesegneten, die Saison selbst aber für Glet- 
scherfahrten zu einer Mustersaison machten. Früher 
erhaltener Weisung gemäss telegraphirte mir Kaspar 
am Morgen dieses Tages, ich möchte suchen, noch den 
nämlichen Abend in Meiringen einzutreffen, jetzt sei es 
Zeit, das verabredete Unternehmen auszuführen. Leider 
verzögerten die Umstände meinen Aufbruch bis. zum 
Mittag des folgenden Tages, so dass ich erst am 29. 
Abends 7 Uhr in Brienz, wo mich Kaspar mit einem 
Wägelchen erwartete, ankam. Er war anfänglich nicht 
in bester Laune, der verlorene schöne Montag hätte 
nach seiner Meinung kein blauer sein sollen, er wollte 
nur noch für einen, höchstens zwei Tage sicheres 
Wetter gutstehen, für den Mittwoch Mittag oder Abend 
prophezeite er eine Krisis, die sich zwar vielleicht wie- 
der würde zum Bessern, aber ebensowohl auch zum 



— 8 — 

Schlimmen wenden können. Diese Krisis fiel nun gerade 
in die Zeit, wo wir muthmasslich mit der Spitze des 
Finsteraarhoms zu thun Tiatten. Ich gestehe, dass mir 
die Eröffnung kein sehr willkommener Gruss war. In- 
dessen bestiegen wir gleichwohl unser Gefährt, um 
nach Meiringen zu fahren und unterdess den wichtigen 
Casus reiflicher zu erwägen. 

— Nun, Kaspar (hub ich, bequem in die Wagen- 
ecke gedrückt und nach dem etwas umwölkten Wild- 
gerst hinauf schielend, wieder an), was ist denn nun 
eigentlich zu machen? Unverrichteter Dinge nach Bern 
zurückzukehren, dazu trage ich wenig Lust, und Geister 
und Gnomen, die uns über Nacht an den Fuss des Finster- 
aarhoms trügen, stehen mir leider nicht zu Befehl. 

— Und wenn es die Geister nicht thun, so kön- 
nen im Nothfall unsere Beine etwas dergleichen leisten. 
Wenn wir, zum Exempel, diese Nacht durchmarschirten 
bis zur Grimsel, so würden wir den heutigen Tag nach- 
holen; dann ist es wenigstens möglich, bis überjnorgen 
Mittag auf die Spitze zu gelangen, und bis dahin (fuhr 
er mit einem bedeutungsvoll fragenden Blicke nach 
dem Himmel fort), bis dahin sollte es der Föhn noch 
prästiren mögen. 

Mir war ein Stein vom Herzen gewälzt. Da nun 
aber einmal an die Stelle des fröhlichen Vertrauens die 
Zweifel getreten waren, so stieg mir das neue Bedenken 
auf: eine Nacht marschiren, dann einen Tag durch den 
Schnee waten, die folgende Nacht in den Gletschern 
bivouakiren, hierauf erst die Hauptarbeit verrichten 
und das gefürchtete Hörn erklimmen, und dies Alles 
ohne jede Vorübung, frisch von der schweren Luft 
der Ebene und vom Pulte weg — — Abraham! 
Abraham! wirst du die Strapaze aushalten? Nimm 
dich in Acht und sage Heber nicht zu, als dass du 



I 



— 9 — 

dich am Ende blamirst. Ich erwiderte dem ruhig ent- 
schlossenen Gemsenjäger: 

— Das ist etwas für Euch, Kaspar, imd Eures 
Gleichen; was mich betriflft, so habe ich ohnehin so 
viel Respect vor unserem Kriegsobjecte, dass ich glaubte, 
ein wahrhafter Schlaf im Bett auf der Grimsel sei vor 
dem Beginne der Operation durchaus kein Luxus, und 
ich möchte nicht etwa zu jenen Humbugem zählen, die 
am Fusse eines schönen Berges elendighch hocken blei- 
ben, indess ihre Führer auf der Spitze die Fahne auf- 
pflanzen und hintendrein die fromme Lüge ausstreuen, 
der Herr habe die Heldenthat verrichtet. Die Hand 
aufs Herz, Kaspar, traut Ihr mir zu, dass ich eine 
solche Strapaze aushalte? 

— Wenn Ihr noch so gesund seid wie voriges 
Jahr, ja. 

— Halt! Kutscher, halt! 

Der Kutscher, ein Jagdgefährte Kaspar's, zog rasch 
die Zügel an und schien nicht wenig erstaunt über 
den barschen Ton des Befehls. 

— Kutscher, jetzt macht Ihr, dass wir so schnell 
wie möglich nach Meiringen kommen. Dort gebt Ihr 
Eurem Rösslein die doppelte Ration Haber, dann führt 
Ihr mich im Schritt nach Jnnertkirchen, bis dorthin 
soll Euer Karren mein Nachtquartier sein. Im Hof, 
Kaspar, stelle ich mich unter Euern Befehl. Wir mar- 
schiren die Nacht. Hü,.Bruuli! 

Der Kutscher stimmte ein in den Ruf, hess die 
Peitsche knallen und stiess dann einen lauten Jauchzer 
aus. Kaspar hing einen embryonischen Jodler d'ran, 
der sofort vom Jagdcameraden aufgenommen und in 
verbesserter Auflage weiter gesponnen wurde. Es klang 
recht lustig, begleitet von Hufgestampf und Peitschen- 
knall und Wagöngerassel, und ich glaube, das gerade 



- 10 - 

vor uns in der Ferne zum abendlich angehauchten 
Himmel ragende Sustenhorn lachte gemüthlich dazu in 
seiner weissen Nachtkappe. 

Die Nacht war längst hereingebrochen, als meine 
ehemaligen Wetterhornführer, Kaspar, Melchior (Menk) 
und Jakob Blatter, mit allem Nöthigen versehen, zum 
Aufbruche bereit standen. Auch das Rösslein war 
wieder eingespannt und liess den frisch bekommenen 
Hafer spüren, als es munter zum Dorfe Meiringen hin- 
austrabte. Nicht weit ausser demselben beginnt die 
Strasse ihre ruhige Steigung zum Kirchet hinauf und 
ich benutzte den nun beginnenden langen Schritt zum 
Schlummern. Die Bettlage in dem kurzen Wägelchen 
war nicht die bequemste, desto prächtiger aber der 
Sternenhimmel, der über dem HasUthal glänzte. Wie 
ein gesunder Mensch, wenn er nur ernstlich will, zu 
jeder Stunde erwachen kann, so ist es ihm gegeben, 
jederzeit sich durch ein nöthiges Schläfchen zu stärken. 
So gelang es auch mir, jedoch nicht ohne dass die 
Sterne sich im buntesten Tanz in meine Träume 
flochten und das von grossen Erwartungen volle Herz 
durch vernehmUches Pochen seine Erregung verrieth. 

Um 11 Uhr Nachts trafen wir im Hof zu Innert- 
kirchen ein; Alles lag schon in den Federn, und es 
bedurfte um so mehr Arbeit, in dem Gasthofe Einlass 
zu finden, als der Wirth uns anfänglich die Ehre an- 
that, unser Rufen und Klopfen für Nachtbubenlärm zu 
halten. Nachher freilich machte er die Sache durch 
verdoppelte Gefälligkeit wieder gut. Nach einigen 
kräftigenden Flaschen brachen wir Schlag Mittemacht, 
mit dem Beginne des 30. Juli, wieder auf und began- 
nen die Bergfahrt. So klar auch jetzt noch die Sterne 
funkelten, so beleuchteten sie doch nur spärlich den 
Saumweg, der zwischen Felsen und Aare gen Guttannen 



— 11 — 

ansteigt. Nur wo von Stufe zu Stufe das Thal in 
flacheren Matten sich ausweitet, vernahm man dann 
und wann ein Wort aus der schweigsamen Kolonne. 
Die Gespräche waren kurz angebunden, denn man 
wollte frisch marschiren, ausserdem trug wohl ein 
Jpder als einzige, Alles beherrschende Phantasie die 
Gewaltigkeit des zu erringenden Zieles in Kopf und 
Herzen; und dann ist es ja ein eigenes Vorrecht der 
Nacht, die Seele des Menschen zu stiller feierlicher 
Betrachtung in sich selbst hinein zu bannen. 

Als die breite Thalsohle von Guttannen erreicht 
war, goss der endlich aufgegangene Mond ein helleres 
Licht über die Landschaft und zeichnete magische 
Figuren an die Felsen. Lautlos und ohne Aufenthalt 
ging's auch durch dieses Dörfchen hindurch; wir 
schlichen beinah' an den Häusern vorbei, um ihre Be- 
wohner nicht aus der Ruhe zu stören, nur die Eisen- 
spitzen der Bergstöcke prallten mit grellem Schall vom 
rauhen Strassenpflaster zurück. Nun führte der Weg 
jene wilden, öden, seelenlosen Scenerieen hinan, durch 
die man zur Handeck gelangt. Bei Tage haben sie 
mir nie gefallen, in dieser nächtlichen Beleuchtung 
aber nahmen sie bedeutend mehr Charakter an, ob er 
auch stets ein unfreundlicher blieb. Diese Gegend ist 
Tag und Nacht befähigt, eine Fülle unwirscher Blocks- 
berggeschichten zu beherbergen. 

Ein klarer aber kalter Morgen brach an, als wir 
die Handeck betraten. Auch hier stacken noch Mensch 
und Vieh in Laub, Heu und Stroh, als wir an die Lä- 
den des Gasthauses klopften, um einen warmen Mor- 
gentinink zu bekommen. Langsam und verschlafen 
schleppte sich auf unsere Aufforderung ein unge- 
waschenes Weibsbild in die Küche; langsam und ver- 
schlafen öflfnete ein ungekämmter Kühbube die knarrende 



— 12 - 

Stallthür, um seine Schutzbefohlenen in's Grüne zu 
lassen, und das Vieh selbst schüttelte phlegmatisch und 
appetitlos die Köpfe. Es hatte noch Niemand rechte^ 
Lust an dem jungen Tag, nur die Aare hinter den 
Tannen rauschte in ungelähmtem Schwünge nach ihrem 
tiefen Felsenkessel hinab und sandte lustige Schaum^ 
wölken über die Wipfel zurück. 

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis unser Früh- 
stück bereitet und verzehrt war. Mittlerweile brach 
der helle Tag herein, und bald fehlte auch die Sonne 
nicht, als wir uns wieder auf den Weg gemacht hatten. 
Die erste Touristenseele, die uns oberhalb des Räth- 
richsbodens von der Grimsel her entgegentrat, war ein 
alter Commilitone, den sie einst wegen seiner nicht 
übermässigen Hochgeschossenheit Pipin den Kleinen 
nannten. 

— Guten Morgen, Pipin! 

— Ei, schönen guten Tag, Herr Doctor. 

— Woher? 

— Von der Strahleck. Wohin? 

— Zum Finsteraarhorn. 

— Der Tausend! Gute Verrichtung! 

— Adieu, Pipin. 

Ich glaube, unsere Unterhaltung dauerte wenig 
länger; ich war voll des Kommenden, er voll des Er- 
lebten, und wo das Herz des Menschen von grossen 
Dingen eingenommen ist, da muss es zuerst mit sich 
selbst fertig werden, ehe es in die Aussenwelt tritt. In 
solchen Momenten innerer Gährung ist die wogende 
Brust ein Heiligthum, und jedes überflüssige profane 
Wort eine Sünde. Adieu, Pipin ! 

Um 7 Uhr waren wir in der Grimsel, eben als ein 
Theil der Uebernachteten die Pferde bestieg, um in 
dieser oder jener Richtung weiter zu reisen. Auf dea 



— 13 — 

Nachtmarsch waren uns zwei Stündchen Rast wohl ge- 
stattet. Diese Zeit wurde aber auch redlich dazu be- 
nutzt, die letzten Utensilien zur Gletscherreise herbei- 
zuschaffen. Dazu gehörten vor allen Dingen die 
Speisen, der rothe Wein, den man, bei 8 Maass, in 
eine grosse blecherne Kapsel schüttete, und die Woll- 
decken, welche uns für die nächtlichen Beiwachten 
dienen sollten. Dem Grimselverwalter, Herrn Frutiger, 
bin ich das Zeugniss schuldig, dass er und seine Leute 
uns sehr freundlich beistanden. 

Es war ein ausgezeichnet schöner Tag aufgegan- 
gen, als wir um 9 Uhr die Grimsel verliessen und 
direct den Gletschern zusteuerten. Alle Welt kennt 
nachgerade den Unteraargletscher, der durch Agassiz 
und seine Schüler schon vor bald zwanzig Jahren die 
Aufmerksamkeit der Gebildeten in höherem Grade auf 
sich zog und wo in unseren Tagen noch der Natur- 
forscher Dollfus mit seltener Beharrlichkeit die damals 
begonnenen Arbeiten fortsetzt Auf diesem Wege fuhrt 
die Bahn zum seither erst den Touristen erschlossenen 
Gletscherpasse der Strahleck, einer jener Regionen, die 
man einst als eine unnahbare Heimath aller bösen 
Geister fürchtete und wo nun allsömmerlich mehr als- 
ein zarter Damenfuss sicher über die eisigen Klüfte 
schreitet. So wird Schritt für Schritt der menschliche 
Geist mit seinem Wissen Herr über die rohe Natur, 
jeder errungene Sieg stählt den Muth, und der 
wachsende Muth findet immer neue Schlüssel zu ver- 
schlossenen Pforten. Unser Weg ist heute aber ein 
anderer. Wo der Unteraargletscher die gewaltige häss- 
liche Moräne vor sich her stösst, benutzen wir nur 
seinen Saum, um ihn quer zu überschreiten und vom 
linken an das rechte Ufer trockneren Fusses zu ge- 
langen, als wenn wir den Uebergang in dem sandigen 



— u — 

und steinigen Delta suchen würden, das von den man- 
cherlei Armen der jungen Aar gebildet wird und so 
ziemlich die ganze Thalsohle ausfüllt, um ihr ein recht 
trostloses Aussehen zu verleihen. Im Vorbeigange nur, 
als die Höhe der Moräne erreicht war, schweifte der 
Blick über die Fläche des Unteraargletschers hin, au& 
dessen Hintergrund der Abschwung auftaucht. 

Als der Gletscher übersetzt war, begann ein an- 
haltendes starkes Steigen am Ausläufer des Zinken- 
Stocks, zur Seite der in munteren Sätzen herabstür- 
zenden Oberaar, die vom Oberaargletscher kommt und 
ihre Wasser der unteren Aar zuführt. Hier zum 
erstenmale begannen die Lungen angestrengt zu wer- 
den, und die aus heiterstem Himmel strahlende Vor- 
mittagssonne machte sich nach und nach empfindlich 
bemerkbar. Nach erreichter Höhe ward uns die Be- 
friedigung, in eine angenehme Alp einzubiegen, die sich 
am Südabhange des Zinkenstocks ausbreitet und ziem- 
lich stark von Vieh aller Art befahren war, von Scha- 
fen, Ziegen, Hornvieh und Pferden. Eines dieser Letz- 
teren hatte ein arges Unglück betroffen: ohne Zweifel 
war es auf dem rauhen und stellenweise steil abfallen- 
den Alpboden nicht sicher gegangen, es muss einen 
Fehltritt gemacht haben, gestürzt und mit gebrochenem 
Bein den Abhang hinuntergerollt sein, wo es auf einer 
Schneebrücke verblutete. Schon sah man von Weitem 
auch sein blankes braunes Fell vom Bisse der gierigen 
Bergdohlen angebohrt. 

Wir erreichten den Saum des Oberaargletschers 
um 12 Uhr und sahen uns veranlasst, eines behag- 
lichen Mittagschläfchens in der Sonne zu pflegen. Die 
durchwanderte Nacht lag eben doch in allen Gliedern 
und rächte sich an einem im Ganzen langsamen Marsche. 
Zu verlieren war dabei nichts, denn für's Erste hatten 



— 15 — 

wir mit der Zeit nicht gerade zu geizen, und zweitens 
ist es für einen Menschen von Gesundheit und Gefühl 
ein Hochgenuss, angehaucht von Gletscherluft und an- 
gebraten von der Gebirgssonne in trockenem Grase 
hinzudämmern, umduftet von frischen Bergblumen und 
überwölbt vom blauen Himmel, dessen Saum aufblen- 
denden Firnen ruht. 

In der That stacken wir schon tief in der Hoch- 
alpenwelt drin. Der Fuss des Oberaargletschers liegt 
seine 2260 Meter (6956 Pariser Fuss) über Meer, und 
auf drei von unten leicht übersehliaren Terrassen steigt 
er in einer Länge von 3 — 4 Marschstunden bis auf die 
Höhe von 3238 Metern (9966 Fuss) hinan. Hier oben 
treten die beiden Bergreihen, welche den Gletscher 
einrahmen, in sich begegnenden Bogen nahe zusam- 
men und lassen auf eben genannter Höhe nur eine 
schmale Pforte offen: das Oberaarjoch. Links von dem 
am Fusse des Gletschers stehenden Beschauer, oder 
am rechten Ufer, treten als bemerkenswertheste Berge 
aus der Kette, die weiter östlich auch das kleine (den 
Touristen bekannte) Sidelhom entsendet, in fast un- 
unterbrochen zunehmender Höhe hervor: das grosse 
Sidelhom (2880 Meter), der Ulricher Stock (nahezu 
2900 Meter), der Gesehener Stock (nahezu 2800 Meter), 
das Löffelhorn (über 3000 Meter), das Rothhom (über 
3400 Meter). Am linken, nördlichen Ufer herrschen 
und streben ebenfalls zu immer grösserer Höhe empor : 
der Zinkenstock (über 3000 Meter), der Grünberg (über 
3000 Meter), der Thierberg (über 3100 Meter), das 
Scheuchzerhorn (nahezu 3500 Meter), das Grünhorn 
(über 3500 Meter), das Oberaarhorn (3634 Meter oder 
11,185 Pariser Fuss). Oberaarhorn und Rothhom sind 
es also, in welchen die beiden Ketten ihre Höhepunkte 
erreichen, und diese zwei Berge stellen sich als ge- 



— 16 — 

waltige Pfosten des Thores dar, das den Weg nach der 
noch viel mächtigeren Gletscherwelt von Wallis öffnet; 
doch üherragt alle Gipfel nicht nur durch seine grös- 
sere Höhe, sondern auch durch schöne pyramidale 
Gestalt das Oheraarhorn, und der weite, breite Glet- 
scherteppich, der von seinem granitenen Fuss aus- 
strömt, hebt es wo möglich noch majestätischer in den 
blauen Himmel empor. 

Um 2 Uhr herum betraten wir den Gletscher und 
durchschritten ihn nun in seiner Mitte der Länge nach 
bis zum Oberaarjoch. Er war sehr zahm, ob auch mit 
einer dünnen Schneeschicht bekleidet; wenn wir den- 
noch am Seil marschirten, so geschah es nur, weil am 
Fusse der verschiedenen Terrassen jedenfalls breitere 
Spalten gähnen mussten und die schneeschmelzende 
Glut der Nachmittagssonne an solchen Orten zur Vor- 
sicht mahnte. Gleichwohl trafen wir keine einzige 
Stelle, bei welcher von wirklicher Gefahr zu reden ge- 
wesen wäre; man konnte sich ganz ungestört dem 
Genüsse der schönen Hochwelt überlassen. 

Wenn beim ersten Betreten des Gletschers schon 
die ganze firnbekleidete südliche Kette sich vor dem 
Aug' entfaltete, so traten dagegen die Kulme der nörd- 
lichen Linie nur einer nach dem andern hervor, weil 
wir von Norden her die Mitte des Gletschers bestie- 
gen und gegen diese Seite hin erst allmäUg den Ueber- 
blick gewannen. Ich stehe nicht an, gerade dieser 
nördlichen Kette den Vorzug zu geben, nicht sowohl 
weil ihre Berge höher streben, als weil sie entschieden 
charakteristischere und mannigfaltigere Formen auf- 
weisen im Vergleich zu einer etwelchen Monotonie der 
parallel laufenden Rivalen. Mir schien im weiteren 
Marschiren der allgemeine Charakter der Region etwas 
ungemein Einsames zu haben, das auf die Dauer sogar 



— 17 — 

ermüden kann; und wenn das Interesse dennoch wach 
blieb, so schreibe ich es noch einmal dem grösseren 
Wechsel der nördlichen Berggestalten zu. Da war 
namentlich das Scheuchzerhom, das im Verein mit 
dem Thierberg wunderschöne Fimfelder entfaltet; und 
auf ihrem blendend weissen Plan, hoch über uns, sahen 
wir langsam zwei dunkle kleine Punkte sich bewegen. 
Das Fernglas bestätigte die Angabe Kaspar's, dass eine 
Gemse mit ihrem Jungen gemüthlich in der warmen 
Sonne spaziere. Die Alte ging voraus und hielt von 
Zeit zu Zeit im Marsch inne, bis das weniger geübte 
Kleine nachgetrippelt kam. Dann blieben sie eine 
Weile zusammen stehen, um nach kurzer Rast und 
klugem Hin- und Herblicken ihres Weges weiter zu 
ziehen. Weiss nicht, ob die Mutter bei diesen Halten 
nur Sorge zur Lunge des Kleinen trug, oder ob dieses 
schon so weit in seiner geistigen Entwickelung vorge- 
schritten war, dass ihm auf peripatetischem Weg weise 
Lehren über das Verhalten gegen die Schlechtigkeiten 
der Menschen ertheilt werden konnten. Zur Ergrün- 
dung dieses Räthsels war mein Fernglas zu schwach. 
Wer aber der lieblichen FamiUenscene am allereifrig- 
sten durch seinen ferntragenden „Jagdspiegel" zuschaute, 
wer diesen dann gerührt dem Nachbar überreichte und 
in fast sentimentalem Lobe der graziösen und ge- 
scheidten Thierchen überfloss, das war der berufs- 
mässige Gemsenmörder Kaspar. Ich habe seither ver- 
sucht, den Widerspruch zu lösen, der darin zu liegen 
scheint, dass der Jäger das Thier seiner Wahl fast wie 
ein Kind lieben und es doch auf den Tod verfolgen 
kann; und ich legte mir die Sache so zurecht: ein 
schönes und intelligentes Geschöpf, wie die Gemse ist, 
nimmt den Menschen für sich ein, allein es reizt ihn 
durch scheue Unnahbarkeit zur Verfolgung; in der 

Roth, Flnsteraarhomfahrt. 2 



- 18 - 

Gefahr entfaltet die Gemse erst recht ihre Tugenden, 
vor Allem dadurch, dass sie den Menschen zwingt, 
seinerseits alle Kräfte des Körpers und des Geistes 
anzuspannen. So wächst in der Jagd die Achtung vor 
dem Wild, zugleich aber auch die Wuth über die man- 
gelnde eigene Kraft, der beleidigte Menschenstolz, und 
ist der Stolz durch einen glücklichen Schuss befriedigt, 
dann kehrt das Herz des Jägers zu seiner ursprüng- 
liclien Milde zurück und umfasst das ganze Gemsen- 
geschlecht mit aufrichtiger Liebe, um es bei gutei^ 
Gelegenheit — aufs Neue zu verfolgen. 

Nachdem wir die hübschen Thierchen eine Weile 
ruliig ihres Weges ziehen gelassen, suchten wir sie 
durch Schreien, Pfeifen und Toben in Galopp zu setzen, 
um zu sehen, wie sie sich auch in diesem Falle be- 
nehmen würden; allein die Entfernung war zu gross, 
unsere Töne erstarben in der weiten Gletscherwildniss ; 
und Gehör und Gesicht der Gemse reichen bekanntlich 
lange nicht so weit wie ihr Geruch. Nur einmal schien 
die Alte ihren Kopf lauschend in die Höhe zu strecken, 
als ob ihr etwas nicht kauscher geschienen hätte; da 
aber der Tahsman, die feine Nase, keine Gefahr ver- 
kündete, so achtete sie weiter nicht des Krakehls der 
niedrigen Menschen, stolzirte gelassen auf der sonnigen 
Halde fort, und das unschuldige Junge bemühte sich 
eifrig hinterher. 

Wir liessen unterdessen die Blicke ebenfalls weiter 
über die weissen Flächen gleiten, am liebsten das herr- 
schende Oberaarhorn hinan, und nicht ohne einen An- 
flug freudigen Schauers sahen wir rechts von seiner 
Spitze über die Kette herüber den schwarzen Gipfel 
des Finsteraarhorns gucken. Das zog uns urplötzlich 
ab von der sentimentalen Ergründung der Gemsenseele 
und lenkte die unserige auf ihr eigenes Ziel. 




— 19 — 

Es versteht sich, dass mit dem allmäligen Höher- 
steigen der Blick in die Anssenwelt sich öffnete, und 
zwar zunächst in der nämlichen nordöstlichen Rich- 
tung, in welcher der Gletscher zu Thal steigt. Da 
enthüllte zu allervorderst der Galenstock seine breiten 
Firnmassen. Hernach folgte der Winterberg, der be- 
kanntlich nach neuesten Messungen den eben genannten 
noch überragt und der eigentliche Herr der verglet- 
scherten Grenzscheide zwischen Bern und Uri ist. Es 
waren dies aber Alles nur Vorläufer zu den imposanten 
Aussichten, die sich vom Oberaarjoche selbst dar- 
bieten. 

Wir erreichten das Joch wenige Minuten nach 
6 Uhr. In der Richtung, von welcher wir gekommen 
waren, schweifte das Auge zunächst über das stunden- 
lange weisse Feld des Oberaargletschers zurück, der 
durch ovale Einfassung und weiche Concavwölbungen 
einer ungeheuren Wanne nicht unähnlich sah. Dann 
flog der Blick weiter nach dem Triflgletscher hinüber, 
der seine breiten Eisfelder sehr merklich über die vor- 
stehenden Hörner hinausträgt, um am jenseitigen 
Ufer noch kräftigere Bursche hervorzustossen, nämlich 
den oben genannten Winterberg und die Thierberge. 
Nördliche und südliche Wacht dieses zackigen Firn- 
kammes sind das Sustenhorn und der Galenstock. Doch 
das Auge weilt nur kurz auf diesem Mittelgrunde, so 
schön er auch ist, und sucht jenseits der Kette des 
Winterberges die nordösthchen Urner und die Glarner, 
die im Tödi ihren Meister anerkennen. Und noch ist 
dies nicht die Hälfte der östlichen Fernsicht des Ober- 
aarjoches. Man erinnere sich, dass es eine Höhe von 
3200 Metern erreicht, es überragt also um mehrere 
hundert Meter, mit Ausnahme des unmittelbar nebenan 
im Süden ansteigenden Rothhoms, alle Kulme der 

2* 



— 20 — 

« 

Bergkette, welche das rechte Ufer des Oberaarglet- 
schers bilden, und die Folge davon ist, dass nun auf 
einmal auch die Berge hervortreten, die bis dahin 
hinter der Kette verborgen waren; der Gotthardsstock 
und die Legion der Gipfel des Bündner Oberlandes. Es 
ist ein Meer von Bergen, deren Namen ich gar nicht 
suchen mag, eine wahre Pracht. 

Die grösste Pracht? — Noch nicht. Ich habe bis 
jetzt noch keinen Gletscherpass überschritten, der auf 
seiner Höhe in so frappanter und erhebender Weise 
Fem- und Nahsicht vereinigte, wie der Sattel, von dem 
ich eben rede. Wenn der Mensch im Anschauen jener 
Legion von felsigen und firnigen Kulmen des Ostens 
und Nordostens beinahe sich zu verlieren scheint, 
so wird er im Umwenden nach Westen plötzlich durch 
die unmittelbare Nähe der ihm eutgegentretenden Rie- 
sen auf sich selbst zurückgebannt, und sein überraschtes 
Staunen verkündet, dass die wenigen, aber durchweg 
aus dem Kolossalen geschnittenen Gestalten ihn völUg 
beherrschen und dem herrlichen Punkt erst die Weihe 
geben. 

Hier, gerade im Westen, liegt in der Tiefe ein neuer 
Gletscher, er läuft quer von Norden nach Süden; die 
Firne des Grates, der sich vom Oberaarhorn nach dem 
Finsteraarhorn hinüberzieht und Mitte Weges noch 
einmal auf der Höhe von 3600 Metern im Studerhorn 
ausgipfelt, sind seine Wurzeln, und zwischen dem mehr- 
genannten Rothhorn und dem nun neu hervortretenden, 
gerade westlich von diesem gelegenen Walliser Roth- 
horn wälzt er sein Eis nach dem Galmi hinab, um 
schliesslich im Viescher Gletscher zu enden. Pa- 
rallel mit dem Oberaarjoche und ihm gerade west- 
lich gegenüber, erhebt sich ein neuer Sattel, und zwar 
etwas höher als unser Joch: der Rothhornsattel oder. 



- 21 - 

wie meine Führer ihn nannten, der rothe Ecken. Da 
links im Süden die Ausläufer des Berner Rothhoms 
und des Walliser Rothhoms ziemlich nahe sich begeg- 
nen, ja, vom Joche aus gesehen, fast ganz zusammen 
zu gehören scheinen, so bildet dieser meines Wissens 
noch namenlose Gletscher einen eigentlichen Eis- 
kessel, der in dem Augenblicke, wo wir seiner an- 
sichtig wurden, eine um so unwirthlichere Figur machte, 
als die Sonne schon hinter den westlichen Bergen ver- 
schwunden war und der Kessel in blassem Schatten 
lag. Das Merkwürdigste aber sind die Wände dieses 
Kessels. Da wälzt sich rechts die schwer von Firn 
beladene Granitmasse, nachdem sie vom Oberaarhorn 
herabgestiegen, bleich und weiss zum Studerhom em- 
por, um auf der andern Seite noch einmal zu sinken; 
dann aber sucht sie zum letzten Mal, mit angestrengter 
Gewalt, in die Höhe zu gelangen. Nach kurzem Kampfe 
schüttelt der Granit Eis, Firn und Schnee, ab, und 
steigt fast senkrecht, schwarz, wild, zerrissen und form- 
los in die Luft bis zur Höhe von 4275 Metern (13,160 
Fuss): — das Finsteraarhorn. Von hier gesehen, 
ist es ein fast gräulicher Berg und trägt er seinen un- 
heimlichen Namen mit Recht. Von dieser Seite ist es 
keine Möglichkeit, seine Spitze zu gewinnen, da häuft 
sich senkrecht Klippe auf Klippe, da kommt selbst 
die Gemse nicht weit, und Alleinherr ist der Adler, der 
Lämmergeier. In südlicher Richtung entsendet das 
Finsteraarhorn eine dunkle Granitkette, die sich beim 
rothen Ecken tief genug senkt, um dem Eise des na- 
menlosen Gletschers zu gestatten, dass es beinahe dem 
jenseits vom Viescher Gletscher heraufstrebenden 
Schnee die Hand reicht. Allein kaum hat sich der 
Felsenkamm so weit erniedrigt, so scheint er sich des- 
sen zu schämen und treibt seine Massen noch einmal 



. — 22 — 

grad in die Höhe. Hier steht das 3549 Meter (10,924 
Fuss) messende Walliser Rothhom. Aber wie anders 
sieht dieser Berg aus, als sein stolzes Gegenüber, das 
Finsteraarhorn! Er bildet an seiner nördlichen Ab- 
dachung, eben gegen das Finsteraarhorn gewendet, eine 
ausserordentlich steile Scheibe, nicht unähnlich dem 
Eiger in Grindelwald, nur dass, wie dieser ein nakter 
Felsen, das Rothhom vom reinsten Schnee bekleidet 
ist, dann auf einmal erfolgt nahe der Spitze ein ge- 
waltiger Riss horizontal durch die Schneewand, und 
hinter dem Bergschrunde, der durch diesen Riss er- 
zeugt wird, taucht das letzte Fragment des Berges als 
ein felsiger Obelisk empor. Dieser Berg ist ungewöhn- 
lich schön und eigenthümlich, doppelt schön im Con- 
traste zum rauhen Herrn dieser Bergwelt, dem Finster- 
aarhorn. ' 

Wenn nun aber auch Finsteraarhorn und Walliser 
Rothhorn mit ihrem vorliegenden Eiskessel vollkommen 
geeignet wären, den staunenden Beschauer zu über- 
sättigen, so nehmen sie doch nicht alle Aufmerksamkeit 
in Beschlag. Die Natur ist hier so freigebig, su über- 
schwänglich im Colossalen, dass sie noch weiter im 
Westen, links hinter dem Rothhorn hervor, das Wanne- 
horn aufsteigen lässt, einen der Gipfel der Walliser 
Viescher Hörner, deren nähere Bekanntschaft wir 
später machen werden. Das Wannehom, ein Bursche 
von 3717 Metern (11,441 Fuss), machte so gewaltige 
Miene, dass ich im ersten Augenblick in ihm das 
Aletschhom, den Zweiten der Berner Alpen, zu finden 
glaubte. Es war freilich ein Irrthum, allein 3717 Meter 
bleiben aller Ehren werth, und das muss man dem 
Wannehom lassen, es versteht von dieser Höhe aus 
sich ganz prächtig auszuspreizen. 

Was soll ich noch davon sagen, dass zuletzt im 



— 23 — 

südwestlichen Strich, links am Walliser Rothhorn vor- 
bei, über die untere Region des namenlosen Gletschers 
hinaus, noch einmal eine Femsicht sich aufthat und 
der Blick an die wohlbekannten, pompösen Gestalten 
des Weisshorns, des Matterhorns und der Mischabel 
fiel? 

Der Eindruck, den die eben skizzirte Welt auf 
uns machte, war ein so überwältigender, dass er uns 
eine volle Stunde an das Oberaarjoch fesselte. Was 
aber alle den Glanz und die Herrlichkeit auf den 
Gipfelpunkt hob, das waren die wechselnden Beleuch- 
tungen. Was nur immer ein wolkenloser Juliabend an 
Glut und Farbe zu erzeugen vermag, an jenem Silber, 
das aus dem schmelzenden Firnschnee blitzt, an goldi- 
gen Abendsäumen, bis hinauf zum rothen, flammenden 
Alpenglühen: wir haben es in dieser Stunde genossen, 
Eins um das Andere, und eine gute Weile sogar Alles 
auf einmal. Als die kleineren Berggipfel des Ostens 
von der letzten Glut angehaucht waren, um von einem 
Augenblick auf den andern zu erlöschen und die kalte 
Blässe der Dämmerung anzuziehen, lächelte drüben im 
südlichen Wallis das schimmernde Weisshom noch so 
hell und silbern in's Land hinaus, als glaubte es sich 
einen ewigen Tag beschieden; unsere Berner in näch- 
ster Nähe aber glühten zu gleicher Zeit in voller 
Pracht. 

Die vorhin beschriebene Firnscheibe des Walliser 
Rothhoms stand eben in warmen Flammen, als wir 
uns wieder auf den Weg machten, gerade diesem Hom 
zu, um an seinem Fusse, wo der Rothhomsattel es mit 
der Finsteraarhornkette vermählt, ein Nachtquartier zu 
suchen. Wir stiegen schnurgerade westlich nach dem 
namenlosen Gletscher hinab und trafen auf demselben 
ansehnlich mehr Schnee, als auf dem Oberaargletscher. 



— 24 — 

Dieser Kessel scheint aber auch recht dazu angethan, 
ein Schneesammler erster Sorte zu sein; was die der 
Sonne zugekehrte Abdachung in schönen Wochen zu 
schmelzen vermag, häufen sicherlich in stürmischen 
Tagen Ost, Föhn und West aufs Reichlichste wieder 
auf. Nach der Wärme und Farbenpracht, die uns auf 
dem Joch entgegengestrahlt, war der Gegensatz um so 
schärfer, den wir im Gletscher erfuhren. Die Abend- 
kühle machte sich empfindlich geltend, und die Eis- 
dünste, die aus den Verliessen des Gletschers durch 
den Schneeteppich heraufstiegen, gewannen nach und 
nach die Alleinherrschaft. Als wir etwas nach 8 Uhr 
die Mitte des Gletschers erreicht hatten, wo man zum 
Rothhornsattel hinauf zu steigen beginnt, bewegten wir 
uns bereits in so energischem Schatten, dass er der 
Nacht sehr nahe verwandt erschien. Die Scheibe des 
Rothhorns war längst verblasst, allein stets noch bannte 
sie einen Tagessclümmer an ihre weisse Fluh, und 
gleichzeitig begann da und dort ein Sternlein am ge- 
dämpften Abendhimmel hervorzublitzen. 

Um 9 Uhr endlich erreichten wir den rothen 
Ecken, den Rothhornsattel. Es scheint mir ein Name 
so berechtigt zu sein wie der andere. Ein Sattel ist 
es in bester Form, nur mit etwas hartem Gneissschiefer 
gepolstert. Wenn meine Phantasie sich mich ein wenig 
als Riesen denken will und die nebenan ragenden Berge 
ein bischen verzwergt, so sitze ich im prächtigsten 
türkischen Sattel mit hoher Rückenlehne, meine Waden 
aber berühren links und rechts vergletscherte Weichen. 
Denn wie von Osten der eben überschrittene namen- 
lose Gletscher zum Sattel heraufstrebt, so steigt an der 
westlichen Abdachung eben so bald und nur noch 
steiler das Eis zum mächtigen Viescher Gletscher hinab, 
der im Halbdunkel der sternhellen Nacht fast grausig 



— 25 — 

dalag. Aber wie gesagt, auch die bescheidenere und 
realistischere Namenclatur der Führer hat ihren trifti- 
gen Sinn ; denn wenige Schritte von der Stelle auf dem 
Sattel, die wir zum Nachtlager wählten, gestaltet sich 
der letzte Ausläufer der südlichen Finsteraarhomkette 
zu einer sehr scharfen Kante oder Ecke von röthlichem 
Granit. 

Nachdem ich von Bern weg 31 Standen auf un- 
unterbrochener Reise, und die ganze Gesellschaft von 
Innertkirchen weg 21 Stunden auf dem Marsche ge- 
wesen, war es den Guten wohl zu gönnen, dass sie 
wussten, wo für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen. 
Vor Allem aber verlangte der Hunger sein Recht, und 
man packte mit Behagen die kalte Küche aus. Dazu 
floss der wärmende Rothwein sammt einem höchst 
willkommenen Gletscherwasser, das sich in der Nähe 
fand. Dann wurde die Fussbekleidung gewechselt, und 
auch dies that Noth, denn die Strümpfe hatten im 
langen Schneewaten halbe Bäche eingesogen. Während 
ich dieser trocknenden Verrichtung oblag, mauerten 
die Führer emsig an unserem Obdach. Der Sattel ist 
sehr schmal und kurz, links und rechts betritt man 
sofort steil abfallende Schnee- und Eisfelder, vorne den 
zum Rothhorn aufsteigenden Schnee, und hinten steht 
nach wenigen Schritten schon der speiTende rothe 
Ecken. Auch bietet diese Lagerstätte den üebelstand, 
dass sie wegen ihrer aus zwei Gletschern aufsteigenden 
Kante dem kalten, eisigen Luftzuge Thür und Thor 
öffnet. Dagegen besass sie für unseren Zweck auch 
eine köstliche Eigenschaft. Der schmale trockene Fel- 
senstreifen weist nämlich auf seiner Oberfläche lauter 
lockere Schieferplatten, mittelst welcher in kurzer Zeit 
kleine Mauern aufgeführt werden können. Dies hatten 
sich Vorgänger vor uns schon zu nutze gemacht; es 



— 26 — 

stand eine hübsche Schiefermauer da, die uns ganz 
willkommen kam; allein da sie gegen einen anderen 
Wind gerichtet war, als gegen den, welcher uns in der 
Nacht zu belästigen drohte, so fugten meine Führer 
eilig eine zweckentsprechende Flügelwand auf, und unser 
Obdach war fertig. Das gesammte Nachtquartier ge- 
staltete sich so: das Schlafgemach — nach zwei Seiten 
gemauert, nach den andern beiden Seiten oflfen; die 
Matratze — mehrbesagter Schiefer; das Kopfkissen -— 
die Reisetasche oder der Tornister; die Bettdecke — 
der Paletot und eine leichte kurze Wolldecke; Bett- 
xidaux — Felsen und Firnhänge; Bett- und Zimmer- 
decke zugleich — der funkelnde Sternenhimmel. Ich 
würde Jügen, wollte ich behaupten, in meinem Leben 
nicht schon besser gebettet gewesen zu sein; aber 
kecklich darf ich auch sagen, dass ich gegen diese 
Lagerung nicht das Mindeste einzuwenden fand, ja, 
dass sie mir bis zu einem gewissen Grade comfortabel 
erschien. Denn, weiss Gott! einen so glänzenden Pla- 
fond, wie ihn das stembesäete Alpenfirmament darbot, 
kann kein König und kein Kaiser in seine Schlösser 
hineinbefehlen. Und wenn es wahr ist, dass der Hun- 
ger der beste Koch, dann verschafft die Strapaze das 
wohligste Bett. 

Bevor ich mich, nach V2IO Uhr, zur Ruhe legte 
— die Führer schnarchten schon, die Beine an die 
Brust herauf und die Wolldecke über Kopf und Ober- 
leib gezogen — , steckte ich noch eine Cigarre an, und 
mit ihrem Qualm flogen die Genüsse des Tages sammt 
zahllosen Phantasieen und brennenden Erwartungen des 
künftigen Marsches in die kalte Gletschemacht hinaus. 
Mir auffallend genug, haftete auch jetzt noch ein ge- 
wisser Tagesschimmer an der weissen Fimfluh des 
Rothhoms, gleichsam um der Nacht, in welche längst 



— 27 — 

:alle niedere Welt versenkt war, Trotz zu bieten. Gegen- 
über im Westen, uns recht nahe, stiegen aus dem nur 
matt durch das Dunkel schimmernden Eismeer des 
Viescher Gletschers gewaltige Felsenklumpen auf, Firn 
auf Gletscher, und Schnee auf Firne thürmend,^ und die 
verworrenen Contouren der Nacht s^eichneten die mäch- 
tige Gestalt des „Kammes" (11,900 Fuss) noch gewal- 
tiger, als sie in Wirklichkeit schon ist. Nach und nach 
^ber forderte auch meine Natur den Tribut der Ruhe, 
die Augen hatten für heute genug geschaut, ich wickelte 
die Beine in die Wolldecke, legte den Kopf auf die 
Reisetasche, zog den Hut über das Gesicht und schlief 
■ein als ein glücklicher Mensch. 



Etwa drei Stunden hatte ich geschlafen, dann aber 
litt es mich nicht mehr auf dem ungewohnten und 
namentlich sehr kalten Lager. Es strich ein imperti- 
nenter Luftzug von Gletscher zu Gletscher über diesen 
10,000 Fuss hohen Sattel. Während meine Gefährten 
nach wie vor unbeweglich, die Köpfe (praktischer als 
ich, weil sie sich durch Wiedereinathmeu des Athems 
das Blut wärmer erhielten) in die Wolldecken gesteckt, 
dalagen, konnte ich es nicht mehr auf meinem Platze 
.aushalten. Ich stand auf, um mich durch Laufen zu 
erwärmen. Mittlerweile war der Mond aufgegangen, 
warf ein geisterhaftes Licht auf die Firne und ver- 
sprach den nächtlichen Spaziergang nur romantisch zu 
machen. Aber ach! die Rennbahn war sehr kurz be- 
gränzt, sie beschränkte sich eben auf die schmale felsige 
Schneide des Sattels, an welchem sich zu beiden Seiten 
-die Schneefelder abdachten, und mit diesen wollte ich 
während der Nacht keine Bekanntschaft machen. Dazu 



— 28 — 

noch bot der stehende Körper dem empfindlich scharfen 
Luftzuge so viele Breitseiten dar, dass ich sehr bald 
vorzog, mich wieder hinter die Schiefermauer zu ver- 
kriechen und dort in Geduld, sitzend, hockend, liegend, 
bewusst und unbewusst hindämmernd, den Tag zu 
erwarten. 

Nachdem eine geraume Weile so verstrichen war, 
machte ich die tröstliche Bemerkung, dass es einem 
der Führer auch nicht mehr viel um das Schlafen zu 
Muthe schien. Mit einem in den Bart hinein ge- 
brummten Fluch auf die Kälte holte er sein Jagd- 
pfeifchen hervor und stopfte es voll. Als ich ihm von 
meiner Cigarre Feuer bot, machte ich ihm bemerklich, 
wir könnten einander wohl die lange Zeit vertreiben, 
wenn er mir eine hübsche Geschichte erzählte, ein 
Märchen, eine Sage oder sonst etwas Pikantes aus dem 
Gemsenjägerleben. Der Angeredete besann sich eine 
Weile, dann hub er mit einem Anfluge von Fröhlich- 
keit an: 

— Ich weiss was Schönes, das vor Jahren, als ich 
noch jung war, ein Grossmütterchen im Dorf an einem 
Kiltabend erzählte; aber Ihr dürft mich nicht aus- 
lachen, wenn ich schlecht b'richte. 

— Warum nicht gar! Heraus mit der Geschichte. 
Und nun berichtete er mir, was ich im folgenden 

Kapitel in meiner Manier wiedererzählen will. 



's schön Anneli. 

Vor langen Jahren lebte im Oberland ein Gemsen- 
jäger, Namens Kaspar. Er war weder so arm, wie 
ein Gemsenjäger von Beruf es gewöhnlich ist, noch so 
reich, um dem Geschäfte aus blosser Liebhaberei ob- 
liegen zu können. Er ging gerade so zwischen durch, 
wie man zu sagen pflegt. Die kleine Alp, auf welcher 
er Winters und Sommers hauste, die er frei und ledig 
besass, und die paar blanken braunen Kühlein d'rauf, 
die ihm tapfer Milch zum Trinken und Käsen lieferten, 
reichten just aus, den Kaspar und sein Töchterlein, 
's schön Anneli, anständig zu ernähren, besonders da 
das Meidschi in der Wirthschaft wacker mithalf. Was 
der alte Jäger im Herbst und Winter an Gemsen, an 
feinen Bergvögeln und ausserdem an Kristallen ver- 
diente, passte zum Aeufiien des Erworbenen. Es heisst 
aber, der Kaspar habe ein gut Theil davon extra bei 
Seite gelegt, um es dem Anneli aufzusparen für einen 
wichtigen Anlass, der. ziemlich häufig eintritt, wenn 
die Mädchen einmal tausend Wochen hinter sich haben. 
War' just nicht nöthig gewesen, denn 's schön Anneli 



— 30 — 

konnte iür sich ganz allein als ein gehöriges Kapital 
an Leib und Seele gelten, schöner nützt nichts und 
braver auch nicht; der brauchte es nicht bange zu 
sein, dass sie keinen Mann bekomme, höchstens den 
Buben, dass sie vergebens am Fensterladen klopften. 
Allein es scheint ^ die Fümehmeren haben es überall 
lind hatten es schon vor alten Zeiten so, dass sie mein- 
ten, Tugend und Schönheit ständen für sich allein auf 
zu schwachen Füssen, die Sache sei erst richtig, wann 
ein paar währschafte Geldrollen das junge Leben unter- 
stützten, wie man es sonst mit alten Kirschbäumen 
macht, die ihre faulen Arme nicht selber tragen können. 
Unser Einem gefällt der junge Saft, der frei von Stan- 
gen und Gabeln aus dem Boden schiesst, von Jahr zu 
Jahr immer tiefere Wurzeln schlägt, aus den Lüften 
die Nahrung zieht, die Wetter und Sonnenschein ihm 
gerade zuführen, und der im Uebrigen den lieben Herr- 
gott walten lässt. ^ 

Brav war es aber gleichwohl vom Kaspar, dass er 
so an sein Kind dachte; denn ich sage noch einmal^ 
's schön Anneli war ein Goldmeidschi, und einem sol- 
chen kann man nie genug Gutes wünschen. Und was. 
dann unsern Alten betrifift, so durfte sich nicht leicht 
Einer wie er auf die Gemsenjagd wagen. Für's Erste 
nämlich besitzt nicht Jeder die nöthige Kraft und Aus- 
dauer zu dem bösen Handwerk, und Manchem, der 
die Kraft hätte, fehlt es an dem Sinn, das schlaue» 
pfiffige Thier in den Schuss zu locken. Und noch 
Eins : auch Kraft und Gescheidtheit reichen nicht immer 
aus; in den Gletschern und auf den Hochfirnen hausen 
oft tückische Geister und kriegen Einen d'ran, wenn 
man s am wenigsten denkt. Gegen diese hilft nur ein 
gutes Gewissen; wer nicht sauber über's. Nierenstück 
ist, bleibe von den Gegenden fern, sonst packt ihn 



— 31 — • 

irgend ein Kobold und verschwindet mit ihm im tief- 
sten Bergschrund. Im Kaspar war Alles beisammen, 
der starke Mann, der kluge Mann imd der brave Mann; 
und wo er ging und stand, wo er an Felsen kletterte 
und über Schneefelder glitt, da flog der Gedanke an 
's schön Anneli als Schutzgeist mit. 

Einmal ging es dem Kaspar doch fast übel. Zwei 
Tage und zwei Nächte war er auf den Gletschern her- 
umgestrichen, ohne ein Thier in den Schuss zu be- 
kommen. Als er am dritten Morgen erwachte, blies 
von den Walliser Alpen her, von den untern nämlich, 
die gegen den Montblanc hin liegen, ein Wind, welcher 
dem erfahrenen Jäger sagen musste, heut' sei es aus 
mit der Jagd, er solle sich einfach nach Hause trollen, 
denn am Nachmittag gebe es schlimmes Wetter. Wie 
es aber den Gemsenjägern geht, wenn sie lange auf 
der Fährte waren, ohne etwas zu erbeuten, so ging's 
auch dem Kaspar: er war wild, und er beschloss, dem 
Himmel zu trotzen. Am Oberaarhorn oder, wenn's da 
nicht zog, ganz sicher drüben an den Walcher Hörnern 
musste er was finden bis zum Mittag, und hatte er 
sein Gamschi, dann frug er, blos um nach Hause zu 
kommen, keinem Gott mehr und keinem Teufel etwas 
nach. Wie doch die sonst so klugen Jäger gelegent- 
lich dumm sein können, wenn sie die Leidenschaft 
packt! Wusste Kaspar nicht, dass die Gemsen noch 
viel bessere Fühlung vom kommenden Wetter haben, 
als die Menschen? Wusste er nicht, dass die feinen 
Thierchen gleich den Menschen lieber im Sonnenschein 
spazieren, als im Nebel, und sich so gut zu verstecken 
wissen, dass man sie vom Erdboden verschwunden 
glaubt, wenn ein Sturm im Anzug ist? ja, Kaspar 
wusste das recht gut, wenn er den Verstand beisammen 
hatte, allein die Leidenschaft reisst eben den Verstand 



— 32 — 

auseinander. Kurz und gut, Kaspar fand nichts am 
Oberaarhorn, weder auf der Grimselseite, noch auf der 
Seite des Finsteraarhorns. Jetzt rutschte er ganz ein- 
fach nach dem Viescher Gletscher hinunter, um über 
denselben nach dem bessern Jagdrevier zu gelangen. 
Er lief, was die Lunge nur aushalten mochte, quer 
über die geiährlichsten Stellen hin, wo die Spalten bloss 
mit leichtem Schnee verdeckt waren. Schon hatten 
sich alle Bergspitzen in dichten Nebel gehüllt, die Luft 
war feuchtwarm, der Schnee erweicht. Kaspar sank 
mit den Füssen alle AugenbKcke ein und spürte sie 
wiederholt im leeren Kaum eines Schrundes, dann 
warf er sich aber jedesmal mit der Gewandtheit des 
ächten Jägers auf Brust nnd Bauch, und kroch, den 
Alpstock in gleicher Richtung vor, sachte über den 
verrätherischen Schnee, um immer wieder auf festen 
Eisgrund zu gelangen. Wohl zwanzig Mal passirte es 
ihm so. Die Leidenschaft aber hatte ihn unterdessen 
völlig in ihre Gewalt bekommen, er gewahrte kaum, 
dass die Nebel bereits von den Bergspitzen und Firnen . 
auf den Gletscher herabstiegen und in wenigen Augen- 
blicken das ganze Revier in ein ungeheures graues 
Luftmeer verwandelt haben mussten. Schon waren die 
ersten Flocken, die Vorposten eines währhaften Schnee- 
gestöbers, im Anzug, aber Kaspar achtete auch dieser 
nicht und wollte um jeden* Preis den Gletscher über- 
setzen. Oder vielmehr, er bemerkte es nur zu gut, 
allein dies fachte die Leidenschaft zu gotteslästerUcher 
Wuth an, und mit einem Fluch wollte er seinen Willen 
erzwingen. Eben stand er vor einer Stelle, wo durch 
eine dünne Schneeschicht hindurch eine breite Spalte 
gähnte; der nüchterne Verstand hätte ihm hundertmal 
gesagt, hier sei nicht durchzukommen, aber die Wuth 
hatte schon allen Verstand übertobt: mit einem „In 



— 33 — 

Gottes und aller Teufel Namen!" nimmt er ohne Be- 
sinnen einen Satz, wie er meint, über die Spalte hin- 
aus, und — krach! bricht es links und rechts, auf 
allen Seiten dröhnend ein. Kaspar stürzt in die kalte 
grüne Eisschlucht, der Himmel weiss wie tief, und 
rauschend rollt ihm der umliegende Schnee als Lawine 
nach. 

Da lag der Aermste lebendig begraben, und es 
mochte wohl lange dauern, bis er sich aus der Betäu- 
bung des schrecklichen Sturzes erholt hatte. Wie er 
erwachte, befand er sich in einer hochgewölbten Eis- 
grotte, die dem schönsten Feeenpalast Ehre gemacht 
haben würde. Wände und Decke waren glatt geschlif- 
fen wie vom feinsten Marmor, der Marmor aber war 
luftiges Himmelblau, durchädert von meergrünen Strei- 
fen. Hinten in der Grotte rieselte ein Bächlein in 
muthwilligen kleinen Sätzen von der Oberwelt herab, 
grünes Wasser auf hellem Azur. es war wunder- 
schön, aber kalt, entsetzlich kalt. Noch entsetzlicher 
war es dem alten Jäger um's Herz; er fühlte, sein 
letztes Stündlein habe geschlagen; die Füsse waren in 
das Wasser jenes Bächleins getaucht, sie begannen zu 
erstarren, und er hatte nicht die Kraft, sie herauszu- 
ziehen. Wo er mit den Händen tastete und in die 
Höhe zu klettern suchte, gUtten sie am starren ge- 
schliffenen Eise ab. Ein Hohu war die ganze Zauber- 
pracht der Grotte, ein strahlendes Grab. Da konnte 
höchstens ein Wunder helfen. Das muss man dena 
Kaspar aber lassen: er schickte sich in das Unglück, 
wie es einem tapfem Manne ziemt. „In Gottes Na- 
men," sagte er zu sich, „gestorben muss es doch ein- 
mal sein, und da sind am Ende diese blauen und 
grünen Kristallwände ein viel schönerer Todtenbaum, 
als die sechs tannenen Bretter, in welchen sie Einen 

Rothf FinBteraarhomfahrt. 3 



— 34 — 

auf den Kirchhof von Meiringen tragen. Zuletzt bin 
ich doch selbst an meinem Unglücke Schuld; was 
brauchte ich so unsinnig zu laufen? was hatte ich über- 
haupt in's Wallis hinein zu wildern? Es ist dir recht 
geschehen, Kaspar, und nun schliess' deine Rechnung 

in Gottes Namen! Aber 's schön Anneli, mein 

Kind?" Bei diesem Gedanken hörte plötzlich alle Fas- 
sung auf. Den starken Mann schüttelte ein gewaltiger 
Fieberfrost, dass Leib und Seele zitterten und Thränen 
und Jammer in einem Strom sich ergossen. „0 Anneli, 
mein Kind, mein liebes Kind! Wie wird es dir sein, 
wenn kein Vater mehr heimkehrt und du allein, mutter- 
seelenallein, noch übrig bleibst? Wie wird das heitere 
Roth von deinen Wangen fliegen und Platz machen dem 
Abbild jener weissen Rosen, aus denen man Todten- 
sträusse flicht! 0, wie wird er brechen, der helle 
Strahl deines Auges, das mich so oft entzückte, dieser 
Spiegel fröhlicher Jugendlust, der Abglanz deines reinen 
Herzens! Und die armen Kinder vom Thal, die an 
schönen Sonntagen zu uns heraufsteigen und denen du 
dann schöne Alpblumen schenkst, dem bravsten ein 
seltenes Edelweiss, denen du Geschichten erzählst und 
Lieder singst — ach, sie werden nun nichts mehr von 
dir vernehmen, als etwa ein altes klagendes Friesen- 
lied. — Gott schütze dich, mein Kind! Mich aber 
hebet weg von der Qual dieses Gedankens, von der 
Folter dieses Lebens, ihr Geister, gute oder böse, die 
ihr hier hausen möget!" 

Bei diesem Ruf erscholl ein gewaltiger Krach, wie 
im Winter, wenn die Gletscher arbeiten und an ihrer 
Gestalt für den folgenden Sommer zimmern. Ver- 
schwunden war das Bächlein, das eben noch über die 
Eiswand stürzte, und die Wand mit ihm. Eine neue, 
viel grössere Grotte hatte sich aufgethan, und an ihrem 



— 35 — 

Eingange stand — der Berggeist. Der ganze Leib war 
angethanmit einer Rüstung von Gletschereis, das jeden 
Augenblick vom Azur zum Meergrün und vom Grün 
zum Himmelblau hinüberspielte ; um die Schultern hing 
ein Talar von blendendem Firnschnee, aus dem un- 
zählige diama,ntene Lichtfunken strahlten; auf dem 
Haupte trug er eine graue Felsenkrone, und den Gra- 
nit überragte flockiger frischgefallener Schnee. Das 
Antlitz des Berggeistes war die leibhafte Majestät, ge- 
paart mit unaussprechlicher Milde. Nachdem er eine 
Weile halb ernst, halb lächelnd den Jammernden an- 
geblickt, hub er an: 

„Wieder eines dieser thörichten Menschenkinder, 
welche die Leidenschaft in's Verderben stürzt. Was 
focht Dich auch an, Kaspar? Warst sonst ein kluger 
Mann, und rennst so unsinnig über die Gletscher, von 
denen du wissen solltest, dass sie keine Tanzböden 
sind. Warst sonst ein braver Mann, und wilderst in 
Gebiete hinein, die Dir nicht gehören. So geht der 
Teufel mit den Menschen durch, wenn er ihnen Tugend 
und Verstand geraubt." 

„„0 grosser Geist,"" fiel Kaspar dem Berggeist 
in's Wort, „„quäle mich nicht noch mehr! gib mir 
den Todesstoss, und ich bete Dich an im Sterben."" 

„Damit hat es noch gute Weile, Mensch. Es thäte 
mir leid um Dich, und noch mehr um Deine schöne 
Tochter, von welcher ich weiss, dass sie Dich lieb hat. 
Es wäre schade um ihre hübschen Bäcklein, wenn sie 
sich schon abhärmen müsste. Die Weiber der Menschen 
werden so schon früh genug alt; was gerathen ist, zu 
dem muss man Sorge tragen. Du hast soeben den 
guten und den bösen Geistern gerufen, dass sie Dich 
wegheben möchten; es wäre anständiger gewesen, die 
bösen aus dem Spiel zu lassen, sie sind ohnehin 



— 36 — 

geschwind genug bei der Hand, wenn die guten fehlen. 
Darfst dem Himmel danken, dass ich, der ich der 
gute Geist bin, Deinen Ruf zuerst vernahm, sonst 
war' es Dir wahrscheinlich schlecht ergangen. Habe 
unterwegs^ ein Dutzend Kobolde von der schlimmsten 
Sorte wegfegen müssen, sie zeigten nicht übel Lust, 
über Dich herzufallen. Mensch, ich will Dich retten 
und unversehrt wieder auf die Oberwelt schaffen." 

„„Habe Dank, habe Dank, o grosser Geist! 
Anneli, mein Kind, dass ich dich wiedersehen soll!"" 

„Allein, guter Mann, schon unter euch Menschen 
ist ein Dienst des andern werth, wie viel mehr zwischen 
Mensch und Geist. Ich erwarte auch etwas von Dir." 

„„Was könnte es sein? Ich bin ein armer Mann 
und habe nichts, was Deiner Herrlichkeit ziemte."" 

„Nein, Mensch, Du bist ein reicher Mann, Du 
besitzest das schönste Kapital im ganzen Oberland, und 
dieses Kapital ist Deine Tochter. Wären Du und 
Deine Brüder nicht störrige Freiheitsmänner, ich würde 
Deine Tochter zur Königin des Oberlandes erheben. 
Aber wart', ich mache sie gleichwohl dazu. Mit einem 
Wort, Kaspar: ich gebe Dir das Leben und Du gibst 
mir Deine Tochter." 

„„Gilt nicht. Geh', und lass' mich sterben."" 

„Hat man je einen halsstarrigeren Menschen ge- 
sehen? Aber so sind diese Bemer. Was missfällt Dir 
denn an dem Handel?" 

„„Ich sollte mein Leben dadurch erkaufen, dass 
ich mein Kind unter die Geister schickte. Daraus wird 
nichts. Geh', und lass' mich sterben."" 

„Alter, das war brav gesprochen. Nun verdienst 
Du doppelt, dass ich Dich rette. Ich sehe schon, ich 
muss Dir eine Goncession machen, es läuft ohnehin bei 
den b'hebigen Oberländern selten anders ab. Wohlan, 



— 37 — 

ich lasse es darauf ankommen, dass Deine Tochter mich 
wül; weist sie mich ab, dann werde ich es Dir nicht 
nachtragen, Du aber sollst auf keine Weise, weder 
durch Wort noch Geberde, sie abzumahnen suchen. 
Bist Du's so zufrieden?" • 

„ „Topp ! — Aber als ehrlicher Mann muss ich Dir, 
grosser Geist, zum voraus sagen, dass sie, ein ehr- 
sam bescheidenes Mädchen, nie einen so gewaltigen 
Herrn nimmt."" 

„Topp 1 — Werden sehen, wer ^letzt lacht. Zwar 
gehe ich da einen schlechten Schick ein; denn ich 
fürchte, wenn ich mein Element, die Gletscher, verlasse 
und als Mensch zu euch Menschen niedersteige, so 
werde ich auch eure Leidenschaften und Schwächen 
mit in den Kauf nehmen müssen. Doch ich hoffe, 
ein Rest meiner Macht wird mir auch in der Verwand- 
lung bleiben, und auf alle Fälle ist Dein Kind ein 
Wagniss werth. Richte ich gar nichts aus, so betracht' 
ich's am Ende als lustiges Abenteuer. Noch einmal 
Topp! und jetzt mache, dass Du fortkommst; hast 
mich schon zu lange aufgehalten. Mein kleiner Finger 
sagt mir, es habe soeben Einer in Grindelwald drüben 
die gleiche Dummheit begangen wie Du. Muss nach- 
sehen. Ist es ein braver Mann, dann will ich ihm 
helfen; ist es ein Schuft, dann geh' er zu Grunde. 
Adieu." 

Sprach's und verschwand mit einem Krach, zehn- 
mal stärker, als der sein Erscheinen begleitete. Kaspar 
aber fühlte sich von rosenrothen Wolken in die Luft 
gehoben und über Gletscher und Berge hingetragen. 
Und wie die Wolken verflogen, stand er auf seiner 
Alp, wenige Schritte vom Heimet. Sein Häuschen 
glänzte lustig in der Abendsonne. Heraus aus der 
Hütte flog 's schön Anneli mit jenem Jauchzen, das 



— 38 — 

• der gepressten Brust entströmt, stürzte dem Vater in 
die Arme und bedeckte sein Gesicht mit heissen Küssen. 
„Gott Lob und Dank!" rief sie unter Jubel und Seuf- 
zen, „Gott Lob und Dank, dass Du wieder hier bist. 
Mir schwante, es sei Dir ein Unglück begegnet. Nein, 
es ist nicht wahr; ich habe Dich noch, ich habe Dich 
noch, mein heber, lieber Vater!" Kaspar drückte das 
Kind nicht weniger warm an's Herz, aber kein Wort 
kam in diesem Augenblick über seine Lippen. — 

Nicht lange nach dieser Begebenheit war grosser 
Herbstmarkt in Meiringen, ein Hauptfest für die Has- 
ler, jung und alt, Männlein und Fräulein. Auf diesen 
Tag dieses Jahres hatte der Jäger Kaspar seinem An- 
neli den ersten Tanz versprochen, denn er huldigte 
dem löblichen Grundsatz, dass ein Tänzchen in Ehren 
Niemand verwehren solle. Es gibt dabei aber auch 
nichts Lieblicheres, als so ein frisch ausgewachsenes 
Gusti, das am Leiblichen alle Tugenden seines Ge- 
schlechts entfaltet, im Herzen noch Kind ist und un- 
bewusst die helle Unschuld aus den Augen strahlen 
lässt. Schon der blosse Anblick rührt den jungen 
Leuten das Blut auf, manchmal sogar noch den alten, 
und wer das Glück hat, das Meidschi zuerst im Arm 
zu wiegen, möchte g'rad' drei Tänze auf einen Gump 
mit ihr abpolken. Daneben ist es gar gleitig vom 
Schöpfer eingerichtet, dass diese Tausendsasächen auch 
ihre Freude an dem Gestampf haben und fast noch am 
liebenswürdigsten sind, wenn sie recht unbeholfen thun 
und aus Schüchternheit kaum ein Ja oder Nein her- 
ausbringen. Nur Geduld; nachher wird ihnen das 
Zünglein schon geläufig. 

Wie ein solider Bauer an keine Lustbarkeit geht, 
ohne wo möglich ein vortheilhaftes Geschäft mit zu 
verbinden und auf diese Weise sein ökonomisches 



— 39 — 

Gewissen zu beschwichtigen, so hatte Kaspar auf jenen 
längst vorausbestimmten Tag ein tüchtiges Kühlein 
herangezüchtet, ja Anneli hatte es eigentlich selbst 
erzogen und der Vater versprochen. Alles, was über 
den gewöhnlichen Preis würde erlöst werden, solle der 
Erzieherin als Lohn gehören. Anneli hatte redlich 
seine Pflicht gethan, und noch etwas mehr, als dies: 
es hatte das Thierchen schon von seiner Geburt an 
nicht nur rechtschafifen genährt und getränkt, sondern 
auch fleissig gestreichelt, getätschelt, an der Stirne 
gekrabbelt und artig mit ihm gesprochen ; und wenn 
ein solches Geschöpf sieht, dass man menschlich mit 
ihm umgeht, dann gedeiht es noch einmal so gut wie 
sonst, insonderheit so ein g'merkiges Oberhaslerli. 
Anneli liess es sich nun aber auch nicht nehmen, ihr 
feines braunes Pflegekind höchstselbst zu Markte zu 
führen, und machte daraus, ohne es zu ahnen, zum 
voraus einen bessern Schick, als der alte Kaspar wohl 
träumte. Wie hätten sich's die Beiden in ilirer Be- 
scheidenheit auch einbilden können, dass das Thierchen 
nur allein durch die holde Nachbarschaft um wenig- 
stens 10 Kronen im Werthe stieg? 

Es war ein Anblick, würdig eines Malers, me sie 
in Zürich unten einen haben sollen — ich glaube, er 
heisst Koller — , als das kleine Trüppchen am frühen 
sonnigen Morgen die Alp verliess. Voran trippelte 's 
schön Anneli im besten Putz. Besonders sauber sah 
über der Brust das Zuhisteckerli von blitzneuem rothem 
Tuch aus, gerade recht gewölbt, nicht zu viel und 
nicht zu wenig, und ein milchweisser Hals tauchte 
daraus hervor; das Gesicht sehr wichtig, es verrieth, 
dass tausenderlei Gedanken in dem Köpfchen herum- 
fuhren, die klaren fröhlichen Augen aber beruhigten, 
es sei nichts Schlimmes dabei. Unmittelbar hinterdrein 



- 40 — 

kam die blank gestriegelte braune Lisi, folgsam und 
gescheidt; man brauchte sie gar nicht zu fähren, sie 
suchte von selbst so oft wie npiöglich mit der Schnauze 
an die Hüfte des Mädchens zu gelangen, um irgend 
ein freundliches Wort oder ein Streicheln von seiner 
Hand zu erhaschen. Zuletzt schritt in langsameren, 
dafür aber auch weit ausholenden Schritten der alte 
Kaspar einher, in seine Berechnungen und in die Pfeife 
vertieft, die nur dann und wann eine Rauchwolke aus- 
stiess; zuweilen aber blieb er auch stehen und guckte 
nach den Flühen hinauf, um im Vorbeigang den Schlupf- 
winkel irgend einer Gemse zu erspähen. Von dem ver- 
wetterten Gesichte hob sich fast feierlich der steife 
weisse Hemdkragen ab, an welchem nur das räthsel- 
haft blieb , dass er dem guten Manne nicht von unten 
herauf die Ohren vom Kopfe schnitt. 

Als sie, obwohl lange nicht die Letzten, in Mei- 
ringen anlangten, war der Markt schon in vollem 
Gange und es herrschte auf demselben ein ganz unge- 
wöhnliches Leben. Wie ein Lauffeuer ging von Haufen 
zu Haufen, von Gruppe zu Gruppe die Frage: „Habt 
ihr den reichen Italiener gesehen?'' Wer ihn noch 
nicht gesehen, dem wurde bereitwilligst die Belehrung 
zu Theil: „Es ist ein steinreicher Mann, er zahlt nur 
in Gold und marktet keine Secunde lang. Er schaut 
sich ein Thier an, und verstehen thut er's, denn er 
nimmt nur gute Waare aufs Korn, fragt kurz ange- 
bunden: Was gilt es? Kommt nun Einer mit Räus- 
pern und Scharren und will mit der Sprache nicht 
heraus, so wünscht er ihm einen höflichen guten Mor- 
gen und spaziert weiter; antwortet Einer dagegen frisch- 
weg: 60 Kronen! 80 Kron«n! so sagt der Italiener: 
Topp! langt in den Sack, holt das Gold heraus, zählt 
noch ein paar Kronen mehr hin und fragt: Seid Ihr 



— 41 — 

zufrieden? Der Verkäufer ist natürlich sehr zufrieden, 
muss lachen über die komische Frage und das blanke 
Gold, er antwortet: Ja, Herr! und der Handel ist 
fertig. — Mach' hurtig, Köbi, dass Du mit Deinem Muni 
auch d'ran kommst, der ist preiswürdig. Ich sage Dir, 
so lange Meiringen steht und die alten Mauern von 
Resti auf das Dorf herablugen, ist hier noch nie so 
schön gehandelt worden. Heut' kann das Tanzen ein 
paar Stunden früher als sonst beginnen." Das bejahende 
Kop&dcken aller Umstehenden bestätigt dem noch zwei- 
felnden Köbi die Richtigkeit der eben vernommenen 
Mähr, er zieht darauf seinen Muni mit kräftigem Ruck 
von dannen, im Kopf erwägend, wie viel Kronen mehr 
er unter sothanen Umständen auf seinen urspriinglichen 
Preis schlagen wolle. Weniger gefällt es ihm dagegen, 
wie er bei zwei hübschen Meidscheni vorbeizieht und 
die eine zur andern sagen hört: „Hast Du den schönen 
Italiener gesehen? die den bekommt, hat es einmal 
gut." Da brummt der Köbi in den Bart: „Ja neu 
unsere Braunchen mag der \Velsche mit über die Berge 
nehmen, aber die Mädel soll er hier lassen, sonst pfeif 
ich ihm in alle seine Goldvögel." Man merkt, der 
Köbi ist noch ledig, aber er ist halb und halb auf der 
Weibe, und zu diesem Geschäfte dient allerdings eine 
grosse Auswahl besser, als eine kleine. 

Endlich debouchirte, wie man in der Garnison zu 
sagen pflegt, auch die kleine Kolonne des Kaspar auf den 
Markt, und Alles machte respektvoll Platz. Für's Erste 
nämlich mochte man allgemein den braven Jäger wohl 
leiden, zweitens galt sein Kind unbedingt als das famo- 
seste Meidschi im Oberhasli, und Jedermann war be- 
troffen darüber, wie das Blitzding im letzten Sommer 
noch zugenommen, während man vorher doch glaubte, 
schöner sei nicht mehr möglich. Und was ihr Viehlein 



— 42 - 

betrifft, so konnte Einer,- wenn er nur halbwegs gut 
hörte, sogleich das Gemurmel vernehmen: Das Stück 
gibt doch dem ganzen Markt den Bogen, es ist es 
toU's ChüeU! 

Natürlich war der reiche Itahener auch nicht mehr 
weit, da er sich so gut auf die Waare verstand. Kich- 
tig sah man ihn schon am Platz, er pressirte aber 
diesmal nicht halb so stark wie früher, und seine Auf- 
merksamkeit war augenscheinlich getheilt in die schöne 
Waare und in die schöne Herrin. Fast schien es, der 
Mensch und der Viehhändler kämen mit einander in 
Conflikt. Wie der Italiener aber bemerkte, dass der 
alte Kaspar in ein ernsthaftes Gespräch über das Wetter 
verwickelt war, begann Signor seine Verhandlung. Der 
schlanke junge Mann mit den kohlrabenschwarzen Haa- 
ren und den flammenden Augen hatte jedoch kaum die 
Lippen geöffnet, so ging mit dem Anneli eine merk- 
würdige Veränderung vor: sie ward beim ersten Blicke 
des unternehmenden Fremden f ürzündigroth , so dass 
eine Weile Kopf, Hals und Brusttuch eine und dieselbe 
Farbe zeigten. Das schreckte aber den Italiener durch- 
aus nicht ab; im Gegentheil, er begann: 

„Was gilt Dein Stücklein, schönes Kind?" 
AnneH war nicht im Stand, eine Antwort zu geben, 
sie schlug in unüberwindlicher Verschämtheit die Augen 
zu Boden. 

„Ich sehe," begann der Fremde wieder, „Du bist 
in dem Geschäfte noch nicht recht bewandert. Es ist, 
scheint es, an mir, das Angebot zu machen. Zwei- 
himdert Kronen — bist Du's zufrieden?" 

„„Herrjemine! Hundert sind schon zu viel."" 
„Nein, Kind, das eine Hundert ist nicht zu viel 
für Dein Musterstückchen, das ja die allerfeinste Race 
darstellt, wie ich sie noch nie so vollkommen gesehen. 



— 43 — 

Und was das andere Hundert betriflft, so rechne ich, 
ich habe in Mailand schon manchesmal eben so viele 
Doublonen für ein schönes Gemälde ausgegeben, und 
das liebHchste Kunstwerk, das mir in meinem Leben 
noch vor Augen getreten, bist doch Du, Annina. 
Nimm's nur. Und wenn Du auch noch ein Verdienst 
dabei haben willst, so lasst uns alsogleich den Kauf mit 
einem flotten Tanze besiegeln. Horch, dort drüben 
fiedeln sie schon, und die lustigen Hasler jodeln und 
stampfen dazu, dass es eine Art hat." 

Dies Alles sagte der Fremde mit einem so feinen 
Anstand und so gewinnender Stimme, dabei spielte 
aber so etwas Geheimnissvolles mit, dass e^ dem An- 
neli wieder grün und blau vor den Augen flimmerte 
und alle seine Gedanken erstarrten gleich dem Kohl- 
häschen vor dem Rachen der Schlange. Die Schlange 
jedoch weidete ihre Blicke mit hellem Genuss an dem 
wieder weiss gewordenen Pelzchen. Gottlob trat nun 
der Vater herbei und ergriff, als ihn die Umstehenden 
von dem verdächtigen Handel unterrichtet hatten, das 
Wort: 

'Herr Italiener! wollt Ihr mein Kühlein, so zahlt, 
was es werth ist, nicht mehr und nicht weniger. Dann 
nehmt das Thier und lasst uns in Ruh. Hier wird 
sauber gehandelt. Meint Ihr etwa, dass Ihr mit Euren 
Doublonen hier oben Alles kaufen könnet, so möchte 
es Euch passiren, dass ' 

Plötzlich stockte das geläufige Wort, und soweit 
dies an einem verwetterten Gemsenjäger möglich ist, 
lief es in diesem Augenblicke dem Kaspar eiskalt den 
Rücken hinauf; denn seine Augen hatten im^ Italiener 
den drohenden Blick des — Berggeistes erkannt. 

' Nimm das Geld, Anneli, und folg' ihm; 

ich begleite Euch.' 



— 44 — 

Jedermann wunderte sich, wie das Anneli ohne 
Widerstreben gehorchte; denn wenn man sie als ein 
sehr folgsames Kind kannte, so wusste man doch auch, 
dass sie am rechten Ort gelegentlich ein Köpfchen 
zeigen konnte; und hier war der Ort dazu, da der 
Kaspar sich schwach benahm, gar nicht nach seiner 
sonstigen Art. Ich habe einmal einen Helgen gesehen, 
auf dem stand am einen Ende ein nackter kleiner Bub, 
mit Flügeln auf dem Rücken und einem Köcher über 
der Schulter; er hatte eben mit einem kleinen Bogen 
auf ein am andern Ende schmachtend daliegendes 
Meidschi geschossen und der Pfeil stack dem unglück- 
lichen We^en mitten im Herzen. Ein G'lehrter er- 
klärte, der Helgen zeige, wie die Mädchen verliebt 
werden, und nun glaub' ich fast, das Anneli hatte auch 
einen Pfeil in der Brust, wenigstens die stechigen Blicke 
des ItaUeners konnten gar wohl solche vorstellen. Ge- 
nug, das Meidschi folgte willig wie ein Opferlamm, 
wenn auch blass wie Schnee. Doch der erste Tanz 
schon erwärmte ihre Wangen, und beim zweiten imd 
dritten ging's noch besser, denn der Italiener tanzte 
wie .ein Gott, und Anneli's Beine waren auch nicht faul. 
Es war überhaupt ein Paar zum Hinwerden. Die Buben 
mochten noch so jaloux sein auf den Fremden, im 
Geheimen mussten sie sich doch gestehen, dass sie 
sammt und sonders plumpe Löhls seien gegen den 
gewandten Herrn, und dass zum schönen Anneli eigent- 
lich etwas Apartiges gehöre. 

Als ein halbes Dutzend Tänze vorüber waren, führte 
der Italiener sein Gespan in einen der Nebenräume,, 
wo man trinkt; er bestellte nicht vom Schlechtesten 
und verlegte sich nun aufs Plaudern. Das Anneli 
hatte nach und nach seine Sprache recht gut wieder 
gefunden, sogar auch jenes verzauberte Lächeln, mit 



— 45 — ^ 

dem es den Knaben zusetzen konnte, vielleicht ohne 
es nur zu wissen. Der Kaspar hatte sich unterdessen 
längst zu den Alten gesetzt, um ruhig die Weltläufe 
zu verhandeln, wie die Kunde sie stossweise in diese 
Thäler heraufbrachte; oder wenigstens that er der- 
gleichen, als ob er ruhig wäre. Der Italiener, um 
wieder auf den zu kommen, sprächelte dies und das, 
lauter unverfängliches Zieug, und das Anneli ging mun- 
ter darauf ein. Endlich begann er aber doch mit 
Wichtigerem, obschon der Ton seiner Stimme es nicht 
im mindesten verrieth. Es heisst überhaupt, die Wel- 
schen sollen in der Verstellung stark sein. 

„Wie wär's, Annina, wenn Du mit mir über die 
Berge kämest, in das schöne Land, wo ich zu Hause 
bin? Ich würde Dich zur reichen vornehmen Frau er- 
heben, ich würde Dich auf den Händen tragen, und Du 
solltest es besser haben, als Gräfinnen und Baronessen." 

„„Hi, hi, hi!«« 

„Du lachst? Ich sage Dir, dass dies mein ganzer 
Ernst ist." 

„„Aber der meine nur halb."" 

„Mädel, mach' mich nicht wild und höre mir recht 
zu. Was willst Du Dein schönes junges Leben hier 
oben versauern, während Dir das Glück ein Paradies 
aufthut? Statt, wie hier, in elender Hütte, sollst Du 
in einem marmornen Paläste wohnen; statt der ein- 
samen Alp mit ihren kahlen Felsenwänden findest Du 
duftige Gärten mit Blumen aller Art, mit Lauben und 
Hainen, in denen goldige Orangen prangen; statt der 
grauen Nebel und Wolken, welche diese Berge fast 
unaufhörlich verhüllen, wölbt sich dort über Deinem 
Haupte ein ewig blauer, warmer Himmel. Sei kein 
Närrchen, Annina, und sage zu." 



— 4G — 

„„Sprechen könnt Ihr, Herr Italiener, es vergeht 
Einem wie Schmalz auf der Zunge. Ich bitte Euch, 
gebt mir Antwort nur auf die eine Frage: was soll 
dann aus meinem alten Vater werden?"" 

„Ah, Du willst Dich nicht von dem Vater trennen? 
Das ist schön von Dir. Allein was hindert das? Er 
komme mit, und er soll es nicht schlechter haben als 
Du." 

„ „Gibt es auch Gemsen in Euren Orangenhainen?"" 

„Du liebe Unschuld, das gerade nicht." 

„„Seht, dann kommt halt der Vater nicht, und 
wenn der Vater nicht kommt, komm' ich nicht, und 
damit ist unsre Rechnung aus. Dank' Euch für alles 
Gute, Herr, und glückliche Reis'."" 

Bei diesen Worten, die am Schluss nicht ohne 
einige Bitterkeit hingeworfen wurden, erhob sich An- 
neli, entschlossen, allen weiteren Zudringlichkeiten des 
Fremden den Faden abzuschneiden. Nun aber ward 
der Fremde zornig wie ein ächter ItaHener. Anneli war 
kaum auf den Füssen, so stand auch er auf, fasste das 
Mädchen um die Hüfte, gierig wie ein Raubvogel, dem 
die Beute entschlüpfen will, und schrie überlaut: 

„ „Folgen musst Du mir, einfältiges Ding! und zum 
Zeichen, dass Du mein bist, drücke ich Dir den Ver- 
lobungskuss auf die Lippen." 

Der 'Kuss war aber erst unterwegs und hatte sein 
Ziel noch nicht erreicht, als ein derber Klatsch erscholl 
und der Allzuhitzige betäubt auf seinen Stuhl zurück- 
prallte. 

Wenn schon der Blitz in das Haus geschlagen hätte, 
so würde er nicht plötzlicher und nicht gründlicher 
allen Gesprächen, die im Saal durcheinander schwirr- 
ten, ein Ende gemacht haben, als das gellende Geschrei 
des Fremden und der Senf d'rauf. Tiefe Stille herrschte 



— 47 - 

augenblicklich, und Aller Augen waren auf Anneli ge- 
richtet, die recht eigentlich majestätisch dastand in 
ihrer Wuth, die Fäuste in die Hüfte gestemmt, die 
Lippen in einander gekniffen und die grossen blauen, 
zornsprühenden Augen unverwandt nach dem Beleidiger 
gerichtet. Eine volle Minute dauerte die peinliche 
Stille, kein Mensch wagte ein Wort zu sagen, nur der 
Köbi und einige seiner Kameraden waren aufgesprungen; 
sie zeigten nicht übel Lust, über den Italiener herzu- 
fallen; erst wollten sie aber doch wissen, was eigent- 
lich los sei, und passten, so zu sagen, mit gespanntem 
Hahn auf das I\ommando. Es kam. Kaum war der 
Italiener wieder zur Besinnung zurückgekehrt, so wollte 
er in bhnder Rachewuth auf Anneli los, die aber tritt 
einen Schritt zurück, stampft sich fest und bannt den 
Mann mit durchbohrendem BUck auf seinen Posten, 
wie man eine wilde Bestie zum Stehen bringt. Noch 
einen lautlosen Augenblick, und es klang aus AnneU's 
Munde derb und begleitet .von herrschender Geberde: 

„„Meiringer Knaben, macht sauberen Tisch!"** 

Es bedurfte keines zweiten Befehls, so drangen 
die nächsten Knaben auf den Fremden ein, um ihn 
mit nervigen Fäusten in's Freie zu befördern. Der 
Italiener war jedoch nicht gesonnen, sich so wohlfeil 
behandeln zu lassen. Jetzt stand auch er wie ein Held 
da, mit fast grässlichem Blick, und in der erhobenen 
Rechten blitzte die Klinge eines scharf geschliffenen 
Dolches. Himmel! was konnte sich begeben? auf 
Anneli's Geheiss! Das nahm dem Mädchen plötzlich 
allen Muth, und mit zitternder Stimme rief sie unter 
die jungen Mannen: 

„„Knaben, lasst ab!"" 

Diesem Befehle gehorchten die Knaben nicht so 
rasch. Ist das Wuhr aufgezogen, dann bricht der 



— 48 — 

Strom heraus. Schon war der Köbi im Begriff, den 
Italiener zu packen, und im gleichen Moment würde 
er ganz sicher den Stahl in der Brust gefühlt haben; 
da, in der letzten Secunde, stürzt Anneli zwischen die 
Beiden hinein, stösst mit der einen Faust den Köbi 
bei Seite und fasst mit der andern Hand den Italiener 
beim Arme: 

„„Platz, Knaben! Platz!"" 

Das überraschte Volk machte Platz und bildete 
unwillkürlich eine Gasse bis zur Thür, eine viel weitere, 
als vor der Hand nöthig war. Der beste Pfadschhtten 
würde nicht schöner gebahnt haben, als der Respekt und 
die Bewunderung, die dem entschlossenen Schritte 
des Bergmädchens vorangingen. So kam der Fremde 
unangetastet aus dem Saal. Anneli aber, dem begreif- 
lich alle Tanzfreude gestört war, eilte, nachdem sie 
noch eine kurze Weile den Ausgang gehütet, wie von 
namenloser Angst befallen zum Vater, um ihn zu 
schleuniger Heimkehr zu bewegen. Ein halbes Dutzend 
Knaben Hessen sich, trotz aUer Abwehr, die Ehre nicht 
nehmen, den Beiden bis zu ihrer Alp das Ehrengeleit 
zu geben, denn es konnte ja Niemand wissen, ob nicht 
der Italiener mit seinen Knechten sich in einen Hinter- 
halt legen würde, um das Meidschi zu entführen. Die 
ganze übrige Nacht patrouülirten die Getreuen in der 
Gegend der Alp und kehrten erst mit dem anbrechen- 
den Tage wieder heim, stolz darauf, für 's schön An- 
neli etwas gethan zu haben. Nöthig war es freilich 
nicht, denn der Italiener ist verschwunden, man hat 
nie mehr etwas von ihm gesehen. — 

Das Anneli hatte schon besser geschlafen, als diese 
Nacht. Noch am folgenden Morgen war ihr Köpfchen 
voll des eben Erlebten. Sie hatte auch gar zu viel 
auf einmal erfahren. Für's Erste ist es sehr natürlich, 



— 49 — 

dass ein schönes Kind, das just im Begriff, seinen 
eigenen Platz in der Menschheit einzunehmen, Gefallen 
findet an einem schmucken jungen Manne, besonders 
wenn sie blond und er energisch schwarz ist. Spielt 
dieser gar den Artigen, den Zuvorkommenden, Alles, 
versteht sich, mit gehörigem Anstand, dann streicht sie 
sicherlich den Tag, da dies geschah, im Kalender roth 
an. AUein vom IJeirathen, obschoh es am Ende doch 
immer auf diesen Punkt hinausläuft, darf man ihr bei 
Leibe nicht reden, sonst ist Alles verspielt. Die Sache' 
soll schön nach und nach kommen, nicht schutzig, 
nicht italienisch; diese weise Verhaltungsregel hatte der 
Fremde ausser Acht gelassen, als er mit der Thüre 
in's Haus fiel. Letzteres mag allenfalls ennet den 
Bergen der Brauch sein, hier geht es nicht an; man 
macht die Meidscheni nur wild, wenn man seine Hul- 
digung nicht mit gehörigen Kratzfüssen oder gar mit 
Kasteiungen einleitet. Dem Anneli lag aber immer 
noch Eines quer: es war nicht im Reinen mit sich, ob 
es dem ungestümen Liebhaber gegenüber recht gehan- 
delt. Eine innere Stimme antwortete ihr Ja auf diese 
Frage; dann musste sich Anneli aber auch wieder ge- 
stehen: es war doch ein gar artiger Herr, und eigent- 
lich Böses hat er ja nicht gewollt, im Gegentheil. Sie 
fühlte ein lebhaftes Bedürfniss, sich mitzutheilen, und 
da war leider keine lebende Seele auf der Alp, als ihr 
Vater. Der zeigte sich entsetzlich spröde auf allen 
Punkten, wo sie ihn anzubohren suchte, er wollte auch 
gar nichts vom Italiener hören, und als sie seine Ge- 
duld durch unaufhörliche offene und verdeckte Fragen 
zum Platzen brachte, erwiderte er barsch: 

„Meidschi! jetzt lass' mich in Ruh mit dem dummen 
Zeug. Dass Du einmal heirathest, versteht sich von 
selbst, 's war' schad', wenn nicht noch ein paar andere 

Roth, Finsteraarbornfahrt. 4 



— 50 — 

Geschöpfe wie Du auf die Welt kämen. Was Du mich 
aber da fragen willst, hättest Du der seligen Mutter 
sagen sollen, wenn sie noch lebte. Gott sei's geklagt, 
dass er sie zu früh weggenommen; im Uebrigen danke 
dem Himmel, dass er Dir Verstand für Zwei gegeben, 
und nun mache für jetzt und aUe Zeit diese Sache mit 
Dir allein aus." 

Es bedurfte zum gründlichen Abbruche dieser Ver- 
handlung kaum des Laufbuben von Meiringen, der in 
diesem Augenbhck in die stiUe Alpwohnung trat. Er war 
scharf gelaufen und brachte die Meldung, es sei ein vor- 
nehmer Herr von Bern angekommen, der wünsche eine 
Bärenjagd zu machen und bestelle den Kaspar als Haupt- 
jäger. Solche Aufträge braucht man Männern wie Kaspar 
nicht zweimal auszurichten; selbst mitten im wichtig- 
sten Geschäfte lassen sie sich dadurch aufrühren, wie 
wenn sie eine Natter gestochen und zu jeder weitern 
Arbeit untauglich gemacht hätte; dem Vater Anneli's 
aber kam die Botschaft dreifach erwünscht, weil sie 
das sicherste Mittel war, den vertrackten Fragen des 
Mädchens zu entrinnen. Unterdessen, dachte er, wird 
sie das Zeug schon verschlafen. Er befahl daher ohne 
Besinnen: 

„Hol' mir die Sonntagsrustig und ein sauberes 
Hemd, Anneli; den Buben will ich unterdess selbst 
besorgen. Denke Dir, Anneli, ein Herr von Bern! 
Vielleicht ist es gar ein Landvogt oder hoher Rath, 
einer meiner gnädigen Herren und Obern, da muss 
man hurtig bei der Hand sein. Denn nur vornehme 
Herren oder Lumpen gehen auf die Jagd, und die 
Stadtlumpen kommen nicht bis zu uns herauf. Schnell, 
schnell die Sonntagsrustig!" 

Wehr und Waffen fanden sich natürlich immer zur 
Stelle, da bedurfte es keiner Vorbereitungen. Als Alles 



— 51 — 

fertig war, hing sich Kaspar die Büchse um, bot seinem 
Kinde einen freundlichen Abschiedsgruss und sagte: 
„Gaum' gut, Anneli, und b'halt' Dich lustig." 
Womit 's schön Anneli in Vaters Abwesenheit sich 
den Kopf zerbrochen haben mag, darüber wollen wir 
uns den eigenen nicht abmartern. Ohnehin war sie 
längst daran gewöhnt. Tage lang allein auf der Alp zu 
leben, und in solcher Einsamkeit ist es ja gerade gut, 
wenn man etwas Neues hat, mit dem man sich die 
Zeit vertreiben kann. Genug, die Jagd dauerte zwei 
volle Tage und endete in der Gegend von Kaspar's Alp, 
wie am Abend des zweiten Tages ein wohlbekanntes 
Jauchzen der stillen Gaumerin von weitem verkündete. 
Sie fand kaum Zeit, für die unerwarteten Gäste das 
Nöthige zu Speis' und Trank herzurichten, obschon es 
gewöhnlich auf einer Alphütte bald genug zusammen- 
gelesen ist. Während sie den Milchkessel über den 
Herd hing und das Feuer anschürte, um etwas War- 
mes zu wege zu bringen, blickte sie dann und wann 
zum geöffneten Fensterchen hinaus und spähte nach 
der neuen Herrschaft. Anneli's Gesicht war nie schwach 
gewesen, allein seit dem Herbstmarkte hatte es sich 
zur Schärfe des Falken gesteigert mit Bezug auf fremde 
junge Herren, die ihr neuerdings in's Gehege kommen 
wüi'den. Ihre Ahnung, dass es wieder ein Junger sein 
\vürde, das heisst gerade so recht im Alter, bestätigte 
sich vollkommen. Aber weh! wie sah der aus im Ver- 
gleich zum schönen Italiener 1 Während dieser bei allen 
seinen Bewegungen wie aus Gemsengliedem zusammen- 
gesetzt schien, trug der neu Herankommende seinen 
Nacken fast so steif wie ein Ahornstecken. Doch An- 
neli fand keine Zeit, lange Betrachtungen undVerglei- 
chungen anzustellen; einmal musste auf die Arbeit ge- 
sehen werden, und dann kam das Jodeln und Jauchzen 



— 52 — 

der Jagdgesellschaft so rasch in die Nähe, dass es 
höchste Zeit ward, die gute Manier zu beobachten, in- 
dem die Hauswirthin ein paar Minuten vor Ankunft 
der Gäste sich unter die Hausthüre stellte. 

Der Zug, der nun erschien, sah stattlich genug 
aus. Vier Mann trugen auf einer Bahre einen gewalts- 
mächtigen Bären, und dabei guckte einem der vorderen 
Träger der Schweif eines ürhahns, den man im Vor- 
beigang geschossen, aus der Seitentasche heraus. Die 
Träger alle machten triumphirende Miene, obschon 
ihnen der Mani schwer auf den Schultern lag, und Einer 
nach dem Andern stiess einen gellenden Jauchzer aus 
zum Preis ihrer That und zum Grusse der schönen 
Aelplerin. Denn es ist unglaublich, wie so ein Donners- 
kind selbst die rauhesten Bärenherzen in Brei zer- 
kneten kann, einzig und allein durch ihr liebliches 
Aussehen. Voran schritten in eifrigem Gespräche der 
Herr von Bern und Kaspar, der die Gewehre von Bei- 
den um die Schulter gehängt hatte. Während die 
Träger, vor dem Alphause angekommen, sich ihrer 
Last entledigten, führte Anneli den vornehmen Gast 
sammt dem Vater in die Stube; die Uebrigen folgten 
von selbst nach, und Alle waren erfreut, den Tisch 
schon mit gehörigem Warmen in reichlicher Weise be- 
laden zu sehen. 

„Das muss man Dir lassen, Kaspar," sagte einer 
der Treibmannen, als Anneli nach der ersten Aufwar- 
tung wieder hinausgegangen war, „ein Mädel hast, das 
ist ein Kapital, wo man die Haut anrührt." 

„„Hoho!"" fiel ein Zweiter ein; „„ich rathe Dir, 
sie nirgendwo anders anzurühren, als an einem der 
zehn Finger, sonst geht es Dir wie neulich dem Italiener. 
Es war ein Mordspass, und seither gefällt mir an dem 
Meidschi nichts so gut, wie seine rechte Hand." " 



— 53 — 

'Habt Ihr auch von der Geschichte gehört?' 
frug der dem Herrn zunächst. Sitzende seinen vor- 
nehmen Nebenmann. 

„0 ja" — erwiderte dieser — ^und es war 
forsch von dem Kinde, man würde es ihr kaum an- 
sehen. Allein so was Apartes ist es denn doch nicht; 
unsere Mittelländerinnen können es gerade so, sie sind 
nur ein wenig langsamer, aber, wenn es gilt, dann viel- 
leicht noch wahrhafter. Wo sollten übrigens unsere 
tapfern Buben herkommen, mit denen wir Herzöge und 
Könige und Kaiser schlagen, wenn die Mütter dieser 
Buben nicht auch handfeste Geschöpfe wären?" 

'Ganz recht,' fiel der Vorige ein, 'aber Euch 
Herren von Bern muss man es nachreden, dass Ihr 
uns und unsere Knaben auch zu führen versteht. Was 
Euch gewöhnlich an Speck und Muskeln abgeht, habt 
Ihr dafür an Verstand und Wissenschaft voraus, und 
das sieht ein Jeder ein, dass es alleweil gut nur gehen 
kann, wann Alles das beisammen ist, und wenn Beide, 
Herr und Baiser, das Herz am rechten Flecke haben.' 

Es ist eine alte Schwachheit der Oberländer, dass 
sie gelegentlich gern ein wenig schmeicheln. Wie nun 
dieser Ton angeschlagen war, konnte es nicht fehlen, 
dass der Erste anhub: 

„Ja, Anneli," denn diese hatte sich neuerdings 
eingefunden, „auch dieser Herr hier versteht seine 
Sache trotz dem gewandtesten und unerschrockensten 
Gemsenjäger; dein Vater wird es bestätigen. Klettern 
kann er wie ein Gratthier, und couragirt ist er, ich 
glaube, er würde den leibhaftigen Teufel nicht furchten. 
Er ist's, er ganz allein, der das Unthier, welches wir 
mitgebracht haben, erlegte. Als wir dem Mutzen auf 
der Spur waren und ihn nach und nach in die Enge 
getrieben haben mussten, postirten wir den Herrn an 



— 54 — 

die Stelle, die wir für die wenigst gefahrliche hielten. 
Richtig lief der Bär, wie wir seiner endlich ansichtig 
wurden, gerade in der Richtung, in der wir ihn haben 
wollten, und da stand Dein Vater zur letzten Oelung 
bereit, als plötzlich ein centnerschwerer Stein vom 
Felsen herabrollt, dem Bären vor den Weg. Der guckt 
verwundert, wie er oben den Rumpel hört, mit seinen 
pfiffigen Aeugleiii hinauf, blitzschnell dreht er sich auf 
den Hinterbeinen um und läuft, was gist was hest, in 
gestrecktem Galopp der entgegengesetzten Richtung zu, 
just auf den Herrn los. Mir ward's grieselig zu Muthe, 
denn in dem Augenblicke hätte ich um das Leben des 
lieben Herrn keinen Halbbatzen mehr gegeben. Der 
aber bleibt stehen wie ein Bock, lässt das Thier, das 
eine kleine Anhöhe zu ihm hinauf galoppirte, auf zwan- 
zig Schritte herankommen, legt an, drückt ab — paflf! 
Aber o weh! ich sah von weitem schon an den von 
der Schulter auffliegenden Pelzhaaren, dass die Bestie 
nur gestreift war. Freilich rollte sie rücklings den 
kleinen Hang hinab, aber unten angekommen, stand sie 
schon wieder auf den Hinterläufen, reckte sich grim- 
mig aus und rannte mit entsetzlichem Gebrüll nun erst 
recht auf ihren Feind los. Wir Alle eilten natürlich 
dem Herrn zu Hülfe, allein wir befanden uns in der 
Erste zu weit weg, um das Thier sicher treffen zu 
können, und dann war der Bär viel flinker als wir. Er 
stand schon wieder bei dem Herrn, als dieser seinen 
zweiten Schuss noch nicht fertig geladen hatte. Jetzt, 
dacht' ich, hilft nichts mehr, als Glück oder Helden- 
muth. Mit schauderhafter Kaltblütigkeit geht der Herr 
bis hart an den Rand des Abhanges dem Thier ent- 
gegen, dreht sein Gewehr um, schlägt es ihm zweimal 
rechts und links um den Schädel, dass es bis zu un- 
seren Ohren herüber krachte; der Mutz schüttelt aber 



— 55 — 

nur den Kopf, als hätte ihn eine Bremse incommodirt, 
und stellt sich brüllend zum letzten Sprung hoch auf 
die Hinterbeine; da gewahrt der Herr den günstigen 
Moment, stösst dem Thier mit aller Gewalt den Kolben 
in die Brust, der Mutz überpurzelt und rollt zum 
zweiten Mal das Berglein hinunter. Gott Lob und 
Dank! — Piff! paff! schiessen ich und der Christen. 
Aber, weiss der Teufel! wir fehlen Beide. Wir waren 
durch das Laufen, zu sehr in Jast gerathen. Der Herr 
indessen hatte während der neuen Kapriolen des Mani 
Zeit gefunden, fertig zu laden. Wie der Bär zum 
dritten Mal und wo möglich mit dreifacher Wuth her- 
auf stürzt, hält ihm der Herr das Gewehr beinahe hart 
an die Brust und jagt ihm eine Kugel in die Ljinge, 
dass ihm das Athmen für immer vergeht. Er rollte 
zum letzten Mal den Abhang hinunter, um nicht wieder 
aufzustehen. Wir Andern kamen eben jetzt an und 
hätten zwei Todte heimzutragen bekommen, wenn sich 
der Herr nicht so tapfer selbst geholfen hätte. Re- 
spect vor ihm! Stosst an, ihr Mannen, und du, Anneli, 
thu' ihm Bescheid aus meinem Glase." 

Anneli wusste, was der Brauch war, und that wie 
befohlen. Auch hatte die eben vernommene Erzählung 
ihr eine grosse Achtung vor der Tapferkeit des vor- 
nehmen Herrn eingeflösst, besonders nachdem Kaspar 
die Wahrheit des Erzählten mit einem kurzen bestimm- 
ten Wort bekräftigt. Allein auch der vornehme Herr 
Hess mit immer merklicherem Wohlgefallen seine 
Blicke auf dem Gesichte und der Gestalt des schönen 
Mädchens weiden. Er hatte zu gewahren geglaubt, sie 
habe während der Erzählung recht um sein Leben ge- 
bangt und hoch aufgeathmet, als schliesslich statt 
seiner die Bestie todt war. Ja vielleicht bildete er sich 
gar ein, das Meidschi sei daran, Knall und Fall in ihn 



— 56 — 

verliebt zu werden. Wenigstens sollen die Herren in 
Bern überhaupt schnell mit dieser Einbildung bei der 
Hand sein und dann, wenn es just keine Festungen zu 
erstürmen gibt, mit nicht minderem Ungestüm auf 
Mädchenherzen losgehen. Verbürgen kann ich's nicht, 
aber es heisst so ; auf der anderen Seite hört man aber 
auch sagen, dass sie in der Stadt unten manchmal 
eine böse Zunge haben, besonders wenn sie zu lange 
beim Kaffee sitzen. 

Sei dem, wie ihm wolle; der Herr nahm die Hul- 
digung des Mädchens sehr gnädig auf, sein steifer 
Nacken schien sich sogar etwas zu beugen, er 
rückte auf die Seite und verdeutete dem Anneli, sich 
neben ihn zu setzen. Diese gehorchte jedoch erst, 
nachdem ihr ein fragender Bhck nach dem Vater die 
Gewissheit verschafft hatte, dass es erlaubt sei. Schon 
wurde sie bei weitem nicht mehr so glühig roth, wie 
neulich dem Italiener gegenüber — so leicht gewöhnen 
sich die Meidscheni an das Schönthun — , aber ein 
klein wenig wurde sie's doch. Der Herr befahl jetzt 
einem der Leute, aus dem Proviantsack die paar rothen 
Burgunderflaschen zu holen, die er für nach der Jagd 
aufgespart, und es begann ein heiteres Bamboschiren 
mit Geschwätz und Gesang, wobei Anneli's Jodler in 
die Bässe der Andern hineinklangen wie ein Silber- 
glöcklein in die Treicheln der Meisterkühe. Nachher 
gingen die Treibmannen lünaus, um unter Kaspar's 
Leitung den Bären auszuweiden, und der Herr blieb 
mit dem Anneli allein in der Stube. 

Man war sich bei dem ungewohnten Französischen 
so vertraut geworden, dass es Anneli kaum bemerkte; 
und da sie von Hause aus ein heiteres Gemüth war, 
so setzte das ungewohnte Getränk ihr Zünglein der- 
massen in Bewegung, dass sie beinah' wie aus der Art 



— 57 — 

schlug. Sie lachte und stichelte, nicht bös' gemeint 
natürlich, nach allen Seiten. Dass der Herr für so 
viele Reize nicht kalt bleiben konnte, versteht sich von 
selbst, und da ein vornehmer Herr, namentlich, wie 
gesagt, ein solcher von Bern, auch gar zu gerne bereit 
ist, die Freundschaft eines niedriger geborenen Mäd- 
chens als halbe oder ganze Verschossenheit auszulegen, 
so begann er fast zu herzhaft zu werden: 

„Nicht wahr, die Herren von Bern sind keine so 
üblen Leute?" 

„„Von diesen habe ich noch keinen gesehen, als 
Euch, Herr. Wenn sie Alle so sind, so müssen's steife 
und tapfere Herren sein." " 

„Und wenn nun eines Tages so Einer käme und 
wollte Dich nach Bern hinunter oder gar auf irgend 
ein Schloss im Aargau als Gnaden Frau Landvögtin 
führen, würdest Du dann Ja oder Nein sagen?" 

„„Nein, würd' ich sagen."" 

„Warum nicht gar!" 

„„Nein, würd' ich sagen, sag' ich noch einmal; 
und ich will Euch sagen, warum. Die Herren Land- 
vögte gelten bei uns Bauersleuten dafür, dass sie dem 
Volke das Blut aus den Nägeln hervorpressen, und 
eines Solchen Frau mScht' ich nie sein, auch wenn er 
so reich wäre wie der silbrige Stock." " 

„Nun, so lass' es keinen Landvogt sein, sondern 
sonst einen vornehmen Herrn, angesehen von Allen 
seines Gleichen, vom Lehenmann und Handwerker bis 
zum Boden hinab ehrfürchtig gegrüsst, der seine ganze 
Zeit Dir widmen kann und nur zur Erholung dann und 
wann die Lauben auf und ab spaziert, um frische Luft 
zu schöpfen — " 

„„Und dazu zu singen: Zur Arbeit nicht, zum 
Müssiggang sind wir, o Herr, geschaffen? Pfui Teufel! 



- 58 - 

einen Derartigen möcht' ich erst recht nicht. Ich stelle 
mir vor, ein Mann, der nichts thut, muss ein entsetz- 
licher Mensch sein, und ehe mir ein solcher Langweiler 
den ganzen Tag auf dem Nacken sitzt, will ich lieber 
zehnmal eine alte Jungfer werden."** 

„Aber ich bitte Dich, Kind, so arg ist es denn 
doch nicht. Wenn man kein Amt hat und kein Ge- 
schäft, so gibt es immer noch genug Gelegenheiten, um 
den Geist zu beschäftigen und die Zeit auszufällen. 
Die Hauptsache für Euch Frauen bleibt aber der Um- 
stand, dass es zum guten Ton gehört, sich stets freund- 
lich und aufmerksam gegen die Damen zu benehmen. 
Ja dies bildet in der feinen Gesellschalt sogar ein 
erstes Erforderniss zur guten Erziehung, und geht jeder 
Kunst und Wissenschaft voran." 

„ „ Und sind denn die Herren bei Euch immer so 
artig und aufmerksam?"" 

„Zweifelst Du daran?" 

„„Ich muss wohl, denn ich habe schon vielmal 
sagen hören, die Herren von Bern seien überall char- 
mant, nur daheim nicht."" 

Der Herr mochte anknüpfen, wo er wollte, das 
Wettersmeidschi trumpfte ihn immer wieder ab. Dies 
musste ihm natürlich zuletzt dm Geduldfaden reissen. 
Seine Stime runzelte sich unwirsch zusammen, der bis- 
her freundlich gewesene Blick hatte sich nach und 
nach verfinstert, ja bei den letzten Worten ward er so 
schwarz, grimm und stechig, dass Anneli glaubte, auf 
einmal wieder — den Italiener vor sich zu sehen. 
Halb aufgerichtet und das zitternde Mädchen mit 
durchbohrenden Augen musternd, frug er: 

„Mädchen, hat Dir Dein Vater das eingetrichtert?" 

„„Um Gottes Willen, was habt Ihr, Herr? Mein 
Vater weiss nichts davon."" 



- 59 — 

Mit diesen Worten wollte sie sich eilends aus der 
unheimKchen Luft flüchten; der Gast aber, der im 
gleichen Augenblick gefühlt haben mochte, dass er aus 
der Rolle gefallen sei, hielt sie am Arm zurück, hatte 
sofort wieder die allerfreundlichste Miene angezogen 
und beschwichtigte: 

„Furcht' Dich nicht, Kind, ich bin nicht bös. Nur 
darauf gib mir noch Bescheid: wie wird denn eigent- 
lich der Mann aussehen, der einst Deine Gunst er- 
wirbt?" 

„ „ Vor allen Dingen lasst mich los, Herr, oder ich 
rufe dem Vater und seinen Mannen.'*" 

Er liess Anneli's Arm fahren. 

„„Wie mein Schatz einmal aussieht, das weiss der 
Herrgott, ich nicht, und Euch geht es nichts an. Das 
aber kann ich Euch zum voraus sagen, dass mich der 
armseligste Gaisbub eher bekommt, als der fürnehmste 
Herr aus Italien oder Bern. Nach meinem einfältigen 
Verstand will die rechte Liebe errungen sein, nicht 
geschenkt; und das Ringen verstehen unsere Buben 
besser, als ihr Herren, denen das Glück in die Wiege 
gefallen." " 

Auf dieses eilte das Mädchen in die Flur hinaus, 
schlug die Thüre schmetternd hinter sich zu und lief 
schnurstracks zum entferntesten Gaden der Alp hinauf, 
um nicht eher wieder heimzukommen, als bis sie aus 
der Fe.me bemerkt hatte, dass der fremde Herr mit 
seinem Trosse zu Thal gezogen. — 

Zwei solche Stürme in so kurzer Zeit auszubauen, 
ist zu viel für ein junges Mädchenherz; eine Wunde 
muss immer zurückbleiben. Ich meine fast, es geht 
da wie mit dem Erdreich, in welchem köstlicher Samen 
liegt, eine trockene Glühsonne hält aber die Oberfläche 
starr und versperrt dem Samen den Durchbruch. So 



— 60 — 

hält ein kindlicher Sinn das junge Herz in der liebens- 
würdigen Gefangenschaft der Unschuld, dann gräbt auf 
einmal das Leben grausame Spatenstiche in das Erd- 
reich, auf welchem sonnige Jugendlust bisher ihr Spiel 
trieb, der Gedanke der Aussenwelt, die Welt selbst 
dringt ein in den lieiligen Schacht und findet als köst- 
lichsten Samen die Liebe. Die Liebe athmet auf, 
strebt durch die Wunde zum Licht, entfaltet ihr reiches 
Gezweig, und Rose an Rose spriesst duftig hervor. So. 
war seit jenem zweiten Versuchungstage Anneli's Un- 
befangenheit dahin; und da sie mit dem Vater nicht 
reden konnte, war sie am liebsten ganz allein. Sie 
feierte ein. stilles Fest, wenn er fortging auf die Jagd. 
Dann durfte auch sie frei ihrer Neigung folgen, und 
diese zog sie hinauf auf die Fluh, von wo man an die 
höchsten Firne und weit in's ebene Land hinaus blickt. 
Hier war Linderung für die gepresste Brust, eine Welt 
für das liebebedürftige Herz. 

Eines Tages hatte sie sich ungewöhnlich weit an 
der Fluh verstiegen, an welcher die Schafe grasten. 
Wieder war sie in ihr süssschmerzliches Träumen ver- 
sunken und staunte der sinkenden Sonne nach, die 
eben mit goldigem Glänze hinter den Bergen ver- 
schwinden wollte. Da vernahm sie auf einmal zu 
Häupten ein jammervolles Blöcken. Ihr Lieblings- 
lämmchen hatte sich verirrt, war eine Strecke weit die 
Karrplatten hinabgerutscht und wusste sich nicht mehr 
zu helfen. Mit wahrer Angst lief Anneli hin und her, 
um zu sehen, wie sie den Liebling rette, allein auch 
sie fand für das arme Thierchen keinen Ausweg: es 
war Alles glatter Felsen, wohl einen Kirchthurm hoch, 
auf welchem man allenfalls mit Lebensgefahr hinab- 
rutschen, nimmer jedoch hinauf klettern konnte. Nun 
stiess auch Anneli ihre helle Wehklage aus, doch ver- 



— 61 — 

mochte sie nicht länger zuzuschauen, es schnürte ihr 
das Herz zusammen, sie eilte von dannen, um nicht 
länger Zeuge des traurigen Schauspiels zu sein, in 
welchem sie so ohnmächtig dastand. Zwei, drei Mal 
noch vernahm sie im Forteilen den Jammerruf des 
armen Lieblings, gleich als wollte es klagen: Hilf mir, 
Anneli, ich bin verloren! Dies mochte das Mädchen 
vollends nicht ertragen, nur einen letzten Blick noch, 
dann Welches Wunder geschah! Wie hingezau- 
bert stand beim verirrten Lamme ein junger Berg- 
mann, halb Hirt, halb Jäger, von kräftigem Wuchs und 
frischem Blick. Eben nahm der plötzlich erschienene 
Retter das Thierchen in den linken Arm und drückte 
es an die Brust, dass es sich nicht rühren konnte, dann 
warf er sich auf den Felsen und liess seinen Körper 
behutsam die steilen Platten hinabgleiten, mit der 
rechten Hand die Schnelligkeit des Laufes dämpfend. 
Gott, es hilft nichts. Schneller und schneller geht 
der Lauf, der Mann bemeistert ihn nicht mehr, und 
zehn Schritte über dem Boden schlägt es ihn mächtig 
über. Dem Anneli ward es schwindlig bei dem An- 
blicke, sie musste sich am nächsten Felsenblocke halten, 
um nicht in die zitternden Kniee zu sinken, und dies 
dauerte eine gute Weile. Sie erwachte aus ihrer halben 
Ohnmacht erst, als sie ein Geleck an der herabhängen- 
den andern Hand spürte : es war der Liebling, der gar 
keinen Schaden genommen und nun, froh seines wie- 
dergewonnenen Lebens, recht muthwillig umherhüpfte, 
dass sein Glöckchen am wolligen Hals raste, als müsste 
es Sturm läuten. L^nd es läutete wirklich Sturm. 
Anneli war kaum wieder zu Kraft gekommen, so war 
ihre nächste Sorge auf den verunglückten Mann ge- 
richtet; sie stieg etwas an der Fluh zurück, um nach 
dem Retter ihres Lieblings zu sehen. Er lebte, aber 



— 62 — 

lag in elendem Zustande da, vergebens bemüht, sich 
aufzurichten und nach dem nahen Bergstocke zu 
greifen, den er von oben vorausgeworfen; im Gesichte 
jedoch zeigte er eine kräftige Ruhe. 

„Thu' nicht so, Meidschi, " erwiderte er den 
jammernden Gruss des Anneli, „es wird nicht so 
schlimm sein. Ich glaube, die Achsel ist mir ausein- 
ander, aber das Uebrige noch in Ordnung. Hilf mir 
auf die Füsse." 

Anneli half. 

„So, reiche mir nun von dort den Stock in die 
linke Hand. — Danke. Jetzt erlaub', dass ich Dir den 
rechten Arm über den Nacken lege, dann wird's gehen. 
— Uff! ja da liegt es, ich habe die Kraft nicht. Thu' 
Du mir's." 

Anneli duckte sich nun selbst unter den Arm des 
Verwundeten und legte ihn sachte auf ihren Nacken, 
so dass die Hand vorn über die rechte Schulter her- 
abhing. 

„Dank, Meidschi; jetzt sollte es gehen. Lasstuns 
ein paar Schritte probiren." 

Es ging, aber sachte und langsam, üebrigens war 
es, als ob der Herrgott die Zwei grad' wie zusammen 
geschaffen hätte; Anneli besass just die gehörige Grösse, 
um dem Arm des Verunglückten die bequemste Lage 
ZM gewähren, und wer den Beiden in's Gesicht hätte 
blicken können, würde bei ihr eine engelsgleiche Hin- 
gebung gefunden haben und bei ihm jene Selbstbe- 
herrschung, jenes männliche Unterdrücken des Schmer- 
zes, wie es nur urkräftigen Naturen gegeben ist. 

Er war gleichwohl halb zu Tode ermattet, als 
nach langem, schmerzhaftem Gange die Alphütte erreicht 
vnirde, und er wusste kaum, wie ihm geschah, als ihn 
Anneli auf ihr eigenes Bett legte, die Wunde aus- 



— 63 — 

wusch und verband, und Alles that, was in solchen 
Fällen nur immer die hingehendste Pflege vermag. 
Gegen Morgen verfiel er in ein heftiges Fieber, das 
mehrere Tage und Nächte anhielt, allein auch hiergegen 
wusste Anneli einige heilende Kräuter, so dass das 
Schlimmste am Ende bald überstanden war. Der 
Kranke war aber auch so geduldig, so folgsam allen 
Anordnungen seiner liebenswürdigen Pflegerin. 

„Jetzt musst mich noch ein paar Tage behalten, 
Anneli," sagte Hans eines Morgens, da er sich wieder 
hell im Geist fühlte und die Genesung im wunden 
Körper spürte, „dann wird es wieder von selbst 
gehen." 

„„Nein, Hans, noch ein paar Wochen lass' ich 
Dich nicht fort, sonst könntest Dir einen Schaden für's 
Leben auflesen."" 

„Liegt Dir denn so viel an meinem Leben, An- 
neU?" 

„„Siehst Du? Du musst noch länger bleiben. Du 
hast noch Fieber, sonst würdest nicht so dumm 
schwatzen." " 

* „Ich will Dir nur Eines sagen, Anneli; wenn ich 
noch viel länger bleibe, dann gehe ich kränker weg, 
als ich hergekommen bin, aber diesmal anderswo un- 
pass, als an der Schulter.^ 

„„Guck, wie Du wieder irre redest; man versteht 
ja gar nicht, was Du sagen willst." " 

Dass ihn Anneli aber doch recht gut verstanden, 
das bezeugten die plötzlich roth gewordenen Wangen, 
die sie freilich vor dem Kranken zu verbergeh bemüht 
war. Eben trippelte zum Glück das gerettete Lämm- 
chen, das Anneli seit jenem Abend bei sich behalten, 
zur halb geöffneten Thüre herein, und diese nahm die 
gute Gelegenheit wahr, es zu streicheln und zu herzen. 



— 04 — 

um dem Kranken den Rücken zukehren zu können. 
Als sie sich nach einigen Sekunden wieder kühler 
fühlte, drehte sie sich nach der Seite des Kranken 
zurück und fuhr zum Lämmchen fort: 

„„Guck', Dein Lebensretter wird wieder gesund. 
Gelt, du hast auch deine Freude d'ran? Geh' und 
mach' ihm ein Kompliment."" 

Das Lämmchen hatte fast Verstand; es hob zwei, 
drei Mal seine Vorderbeinchen in die Höh', nickte mit 
schiefliegendem Köpfchen jedesmal dazu, dass das 
Glöckchen am Hals wirbelte, und galoppirte dann am 
Bette des Kranken vorbei schnurstracks wieder in's 
Freie hinaus. Hans und Anneli lachten dazu wie die 
Kinder. 

Dem alten Kaspar war natürlich das curiose Wesen 
der Beiden nicht entgangen. Wer sollte es auch nicht 
merken, wenn Zwei in einander verliebt sind? Allein 
in richtiger Würdigung der Verhältnisse, und seinen 
Versprechungen und Aussagen getreu, Hess er der 
Sache einfach ihren Lauf. Ohnehin konnte er sich auf 
die gesunde Natur seines Kindes verlassen, das die von 
ihm gehegte gute Meinung gegenüber den räthselhafteh 
vornehmen Herren glänzend gerechtfertigt hatte. Auch 
gefiel ihm der junge Bursche recht gut, und eigentlich 
hätte er nichts lieber gewünscht, als dass das Anneli 
so schnell wie möglich mit ihjn unter Dach käme, da- 
mit endlich der vertrackte Berggeist ihn und sein 
Mädel in Ruhe lasse. Mit Vergnügen nahm er des- 
halb die Gelegenheit wahr, wo ihm, so zu sagen, die 
väterliche Pflicht das Amt auferlegte, sein Wörtchen 
d'rein zu reden. Je näher nämlich der Tag heran- 
rückte, da aller und jeder Grund aufhörte, die Alp- 
hütte für einen Spittel und ihre schöne Herrin für eine 
Krankenpflegerin zu nehmen, desto blasser und wort- 



— 65 — 

karger, desto kränker im Innern wurde das Anneli. 
Mehr als einnial schwebte ihr ein Geheinmiss auf den 
Lippen, welches sie dem Vater anvertrauen wollte, aber 
jedesmal unterdrückte die weibliche Scheu es wieder. 
Eines Samstag Abends, als Hans einen Gang durch die 
Alp machte und Kaspar mit seinem Kinde allein auf 
der Bank vor der Hütte sass, hub der Alte, nachdem 
er zuvor einige mächtige Rauchwolken ausgestossen, 
folgendermassen an: 

„Anneli, ich muss Dir was sagen." 

Dies war ein ganz ungewohnter Redeanfang. So 
rückte Kaspar nur aus, wenn er etwas Wichtiges sagen 
wollte. Anneli schaute ihn daher mit grossen, erwar- 
tungsvollen Augen an. 

„Als Deine selige Mutter noch lebte, folgte ich 
dem Grundsatze, der Mann müsse sein Geschäft haben 
und die Frau das ihrige, und da dürfe man sich gegen- 
seitig nicht in's Handwerk pfuschen, so werde der 
häusliche Friede am besten erhalten. Du weisst, seit 
die Mutter todt ist, bist Du schon früh angehalten 
worden, ihr Wesen zu besorgen, und ich gebe Dir das 
Zeugniss, dass Du's nie anders, als zu meiner Freude 
thatest." 

Hier räusperte sich der Alte und Anneli fand Zeit, 
Zeichen lebhafter Ungeduld abzulegen durch Hin- und 
Herrutschen, durch Augen -Auf- und Niederschlagen, 
durch Zupfen am Fürtuch und so weiter. Natürlich 
roch sie den Braten, und wenn sie ihrer Stimmung 
hätte einen passenden kurzen Ausdruck geben können, 
so wäre sie dem Redner gewiss in's Wort gefallen: 
Zur Sache, zur Sache! E^aspar merkte nichts davon, 
er war allzusehr in seinen wohldurchdachten Vortrag 
vertieft und fuhr, nachdem er wiederholt lange Züge 
aus seiner Pfeife gethan, fort: 

Roth, Finsteraarhornfahrt. 5 



— 66 — 

„Jetzt ist ein Fall eingetreten, wo Du Mutter und 
Tochter zu gleicher Zeit sein solltest, und das geht 
unter natürlichen Menschen nicht gut an. Ich meine, 
das Beste ist, ich wildere einmal gegen meine sonstigen 
Grundsätze in das Weibergeschäft hinein; wie ich die 
Sache ansehe, kommen wir damit Alle am hurtigsten 
auf einen grünen Zweig." 

Zur Sache, zur Sache! tönte es, wenn auch mit an- 
dern oder gar keinen Worten, im Innern des Mädchens, 
und ihre Ungeduld gab sich durch neues Rutschen und 
Zupfen kund. Diesmal störte es den würdigen ßedner, 
so dass ihm plötzlicl^ der Faden des Zusammenhanges 
abhanden kam; da es aber keine grössere Schmach 
gibt, als wenn ein Pfarrer in der Predigt stecken 
bleibt, so eilte Kaspar rasch entschlossen zum Schluss: 

„Anneli! so löhlig, wie Du die letzte Zeit über 
thust, will ich Dich nicht länger sehen. Wenn Du etwa 
den Hans magst, so nimm ihn. Ich mag den braven 
Jungen auch leiden.'' 

. Das war die Sache und brach das Eis. Jauch- 
zend sprang das Anneli auf, drehte sich zweimal auf 
dem rechten Absatz um, sprang dann auf den Vater 
los und umarmte und herzte und küsste ihn, als ob 
eigentlich er, nicht der Hans, ihr Schatz geworden 
wäre. Der Hans aber stand plötzlich zur andern Seite 
des Vaters und klopfte ihm, diesem fast zum Schrecken, 
einen währschaften Schlag auf die Schulter: 

^Danke, Vater; Ihr sollt es nicht zu bereuen haben, 
imd das Anneli noch weniger.^ 

Dann reichte er dem Alten die Hand, und die 
beiden Männer schüttelten sich mit einer Gewalt, dass 
es einem Städter gewisslich die Armbänder auseinan- 
dergerissen haben würde. Nun hub aber Hans wieder 
an und sagte: 



— 67 — 

'Ich glaube, Anneli, ich könnte Dich nicht recht 
lieben, bevor Eines geschehen, das mir besonders am 
Herzen liegt. Dort drüben über den Bergen, wo ich 
hergekommen bin, lebt mir die alte Mutter; dieser 
möchte ich meine Geliebte zufuhren. Und Ihr, Vater, 
kommt mit. Schaut, es weht ein lustiger Föhn von 
den Gletschern her, morgen wird's wohl der letzte 
schöne Sonntag in diesem Jahre sein, den könnten wir 
gerade benutzen." 

„„Ich komme. Gottlob, nun habe ich wieder eine 
Mutter!"" rief Anneli freudig aus. 

Auch Kaspar willigte aUgemach ein, aber ungern 
und nicht ohne ein bedenkliches Eopfschütteln; denn 
dort drüben, wohin der Hans gezeigt hatte, lag der 
Viescher Gletscher, 

Hans hatte sich anerboten, den Abend noch aus 
einer benachbarten Alp . einen Knecht herbeizuholen, 
damit er in Abwesenheit der kleinen Familie ihr Vieh 
besorge, und er kehrte erst heim, als Vater und Anneli 
in tiefem Schlaf lagen. Lange vor der Sonne waren 
Alle wieder auf und wanderten lautlos den Höhen zu. 
Dem Anneli, welche sich sehr freute, zum ersten Mal 
. in die Herrlichkeiten der Gletscherwelt hinauf zu ge- 
langen, von denen ihr der Vater so oft erzählt, ging 
das Marschiren aufifallend mühelos von Statten, sie 
brauchte kaum zu athmen; und auch der Vater ver- 
wunderte sich höchlich, wie leicht und schnell ihn die 
Füsse trugen, so was war ihm noch nie vorgekommen. 
Ja, sie fanden sich mit geradezu fabelhafter Schnellig- 
keit auf der Höhe des Sattels, von dem man in's 
Wallis hinunter steigt und das grosse Eismeer vor sich 
hat. In eben dem Augenblicke trat vom klaren Osten 
her der erste Sonnenstrahl hervor und vergoldete die 

Bergspitzen ringsum, dass es eine Pracht war. Anneli 

5* 



— 68 — 

hätte vergehen mögen vor Entzücken, und selbst dem 
gegen die Natureindrücke abgehärteten Kaspar sah die 
Welt heute b'sonderbar schön aus. 

Unterdessen ging aber noch eine andere, für unsere 
Leutchen viel wunderbarere Veränderung vor, die sie 
im Anstaunen des Sonnenaufganges anfänglich gar 
nicht bemerkten. Hans stand plötzlich verwandelt da: 
der ganze Leib war angethan mit einer Rüstung von 
Gletschereis, das jeden Augenblick vom Azur zum 
. Meergrün und vom Grün zum Himmelblau hinüber- 
spielte; um die Schultern hing ein Talar von blenden- 
dem Firnschnee, aus dem unzählige diamantene Licht- 
funken strahlten; auf dem Haupte trug er eine graue 
Felsenkrone, und den Granit überragte junger flockiger 
Schnee, auf welchem das Morgenroth glühte. 

„0 Himmel, der Berggeist!" brach Kaspar mit 
einem Schrei des Entsetzens aus, und stand dann wie 
versteinert da. Anneli war wahrlich nicht weniger er- 
schrocken, allein atis alle dem Glanz heraus erkannte 
sie noch das unveränderte und wohlwollend lächelnde 
AntUtz des Geliebten. Es beschUch sie fast noch vor 
dem Schrecken ein unnennbar seliges Gefühl, als ob 
sie erst jetzt recht glückUch wäre: 

„„Schau, Vater, es ist ja mein Schatz."" 

'Ja, Kind,' hub jetzt der Berggeist an, 'ich bin 
dein Schatz und ich werde es bleiben alle Zeit. Ich 
habe versprochen. Dich zu meiner Mutter zu fuhren. 
Sieh', hier diese strahlende Welt ist meine Mutter, aus 
ihrem Schoosse bin ich entsprossen und in ihren 
Schooss werde ich zurückkehren, aber erst, wann der 
Urheber alles Seins die Zeit aufhebt und die Ewigkeit, 
und Himmel und Erde in Nichts zerfallen. Doch so 
lange sollst auch Du sein, kraft meiner Majestät, zum 
Lohne Deiner Tugend und zum Preise der Schönheit. — 



. — 69 — 

Ja, Vater, ich bin der Berggeist, aber fürchte ihn 
nicht. Er hat Dir schon einmal das Leben gerettet, 
und so lange es Dir der Gott der Menschen erhält, 
sollst Du an mir einen mächtigen Beschützer finden. 
— Nun kommt und lasst uns Hochzeit feiern im 
Gletscher.' 

Indem der Berggeist dieses sagte, hob er gebietend 
den Arm empor, auf seinen Wink flogen vier Gold- 
adler von einem der höchsten Gipfel herab, und aus 
dem Schnabel eines Jeden hing das Ende eines rosen- 
rothen Wolkenteppichs. Ehe es die Verzauberten nur 
bemerkten, fühlten sie sich sammt dem Berggeiste auf 
dem Teppich in die Luft getragen, hoch über den 
Gletscher hin, und wie sie über der Mitte des Eismee- 
res schwebten, gab der Berggeist einen neuen Wink. 
Ein dröhnender KnaU wie aus hundert Kanonen er- 
scholl unter ihnen. Der Gletscher war auseinander- 
gesprengt, die Adler flogen schnurstracks zur Tiefe mit 
ihrer Last, mitten in den klaffenden Eisschrund hinein, 
und als sie drinnen angekommen waren, erdröhnte ein 
neuer Krach, weg waren die Adler, und die Eiswände 
wölbten sich in einem ungeheuren himmelblauen Dom 
über den Verzauberten zusammen. Ein unbeschreib- 
licher Glanz flammte durch den gewaltigen Gletscher- 
saal, es wimmelte von Lichtfunken, deren jeder an 
den schimmernden Wänden sich hundertfältig spiegelte, 
grüne Cascaden sprudelten in den mannigfaltigsten 
Gestalten über den glatten Azur und spritzten unzäh- 
lige weisse Schaumwolken aus. In der Mitte des Saales 
stand ein Gletschertisch, mit köstlichen Speisen bela- 
den; der Berggeist führte seine Braut und den Vater 
zu ihm hin. Kaum hatten sie sich gesetzt, so waren 
die nächsten Cascaden in eben so viele Brunnen ver- 
wandelt, die den süssesten Schaumwein in krystallene 



— 70 — 

Gläser gössen. Jetzt öffnete sich unter wunderbarer 
Sphärenmusik ein grosses Eisthor am einen Ende des 
Saales, und herein zog ein Chor von Geistern aller 
Art, die dem mächtigen Hochzeiter unterthan. Die 
Vordersten trugen auf sammtenen Polstern die Hoch- 
zeitgaben und kamen, damit die verzauberte Braut zu 
schmücken. Die erste Gabe war ein Gewand von 
blendendem Firnschnee, aus dem unzählige diamantene 
Lichtfunken strahlten, und der Geist, der es ihr um 
die Hüfte legte, sprach dazu: „So rein, wie dieses Ge- 
wand, war Dein Herz und wird es bleiben in Ewigkeit." 
Der Zweite brachte ein Diadem von rothen Rubinen 
und drückte es ihr auf das blonde Haar: „Die Farbe 
der Scham ist das Zeichen der wahren Liebe, dieser 
Adel wird Deine Stirne schmücken in Ewigkeit." Der 
Dritte brachte Spangen von schwarzen Topasen und 
hing sie der Braut um den weissen Arm : „Schwarz ist 
die Farbe des Todes, den Menschen ein Gräuel; Du 
aber trägst diesen Stein hinfür als Zeichen, dass Deine 
Tugend den Tod überwunden und durch jedes Unge- 
mach dringen wird wie der klare Strahl, der aus dem 
dunkeln Kristall strömt." Jetzt erhob sich der Berg- 
geist, fasste die ihm ebenbürtig geschmückte Braut 
bei der Hand und drückte ihr einen Kuss auf die 
Stirn, der Chor der Geister aber sank in die* Kniee 
und verbeugte sich vor der Königin der Berge. 
Wieder ein weithin dröhnender Knall, aushallend durch 
die gesammte Gletscherwelt, und die Vermählung war 
vollzogen. 

Am Morgen des folgenden Tages war Kaspar wie- 
der auf seiner Alp. Er wusste kaum, wie ihm ge- 
schehen. Es war Alles in gleicher Ordnung wie zuvor, 
nur 's schön Anneli fehlte, und das machte ihm 
schrecklich lange Zeit. Dafür gab es kein besseres 



— 71 — 

Heilmittel, als die Jagd. Kaspar hob die Büchse von 
der Wand und stieg in die Berge, den Gemsen nach. 
Er brachte eine erstaunlich reiche Beute heim. Der 
zweite Tag verstrich ebenso, der dritte auch, nicht 
minder ein zweites und drittes Jahr und sein ganzes 
übriges Leben. Dem alten Jäger versagte von diesem 
Tag an keine einzige Kugel mehr, daneben sprossten 
aus seiner Alp viel saftigere Kräuter, als je, und die 
Thierchen, die von ihrem Grase genossen, wurden bis 
weit in's Welschland hinein bewundert. So waltete der 
Segen des Berggeistes auf dem grünen Alpeneiland bis 
zum seligen Ende des Alten. 

Am Abend aber des Hochzeittages hatte der Berg- 
geist seine Braut auf ein weiches Lager von Flechten 
und Moosen gelegt und die duftigsten und farbigsten 
Blumen um ihr Haupt gestreut, bis sie entschlummerte. 
Dann hob er sie in seine Arme und trug sie aufs 
Neue zur Oberwelt empor. Wo die Felsen viele tau- 
send Fuss steil abstürzen nach dem wüsten Boththal, 
und tiefer noch bis zum freundlichen Plane von Lau- 
terbrunnen, stellte der Berggeist die süsse Last hin. 
Der Hauch, der da seinem tiefausholenden Athem ent- 
strömte, drang in ihren Körper und belebte diesen mit 
dem unvergänglichen Zauber der Firne. Noch war die 
Maid bekleidet mit dem Gewände der Alpenkönigin, 
mit blendendem Firnschnee, aus dem unzählige dia- 
mantene Lichtfiinken strahlten. Die letzten Falten des 
Gewandes berühren seitdem die grünen Matten der 
Wengernalp. Die schwarzen Topase am weissen Arm 
sind granitne Felsen geworden, die aus den Gletschern 
lugen. Wo das Herz in ungetrübter Reinheit klopfte, 
hat der Berggeist den Firnbusen hervorgewölbt, den 
die Menschen das Schueehorn und das Silberhorn nen- 
nen, und sie glänzen in gleicher unverwüstlicher Rein- 



— 72 — 

heit weit in die Lande hinaus. Die ganze strahlende 
Berggestalt heisst seitdem, zum Lob der Tugend und 
zum Preise der Schönheit, die Jungfrau; und wenn 
Morgens aus den Alpen die Sonne aufsteigt und Abends 
hinter dem Jura verschwindet, dann bietet der Berg- 
geist seiner Geliebten den Morgen- und Abendkuss, und 
es flammen die Bubinen auf ihrer Stirn. 



Das Hörn. 

Wenn man vom Rothhomsattel eine gerade Linie 
nach Westen zieht, so fällt sie ziemlich genau auf die 
Grünhomlücke, einen neuen, hohen und stark verglet- 
' scherten Sattel. Er bildet gleichsam das Thor zum 
Aletsch-Eismeer, dem gewaltigsten der Alpenwelt, dessen 
eigentlicher Beherrscher, das Aletschhom, mit seinen 
4207 Metern (12,950 Par. Fuss) der nächste Rivale des 
Finsteraarhoms ist; an den nordwestlichen Wurzeln 
des Eismeers thront die Jungfrau mit 4167 Metern 
(12,827 Fuss). Zwischen Rothhomsattel und Grünhom- 
lücke breitet sich der Viescher Gletscher in bedeuten- 
dem Umfange aus. Im Norden ist er begrenzt durch 
das Finsteraarhom und den hohen Berggrat, der vom 
Könige der Bemer Alpen nach den Grindelwaldner 
Viescher Hörnern hinüber führt. Diesem Grat entsteigt 
in nächster Nachbarschaft des Finsteraarhoms das 
Agassizhom mit 3950 Metern (12,158 Fuss), dann das 
grosse Viescher Hom mit 3873 Metern (11,921 Fuss). 
Bei den Grindelwaldner Viescher Hörnern angelangt, 
biegt der Grat beinahe im rechten Winkel nach Süden 



— 74 — 

ab und stösst sofort die Viescher Homer selbst hervor, 
deren nicht weniger als drei die Höhe von 4000 Metern 
überschreiten. Diese südwärts laufende hohe Fimkette 
endigt bei der Grünhornlücke, um sofort wieder sich in 
einem ungeordneten Haufen imposanter und reich von 
Gletschern durchwirkter Berggipfel zu erheben, nämlich in 
den Walliser Viescher Hörnern oder (wie wir sie auch 
künftig nennen wollen) den Walcher Hörnern, für deren 
höchstes man fiüher das wenig über 3700 Meter reichende 
Wannehorn hielt, während die Dufour'sche Karte den 
„Kamm" und einen Ungenannten über 3800 und einen 
zweiten Ungenannten sogar auf 3905 Meter (12,019 Fuss) 
steigen lässt. Trotz der verworrenen Lage der Walcher 
Hörner zu einander erkennt man doch in ihrem Grund- 
stock eine bestimmte Richtung, oder vielmehr ihrer 
zwei. Zunächst von der Grünhomlücke weg folgt diese 
Kette dem von den Viescher Hörnern gegebenen Impuls 
bis zum Wannehorn, und der Hauptzug geht auch von da 
an, dem grossen Aletschgletscher entlang, nach Süden 
weiter. Vom Wannehorn biegt jedoch ein Zweig nach 
Osten ab und wendet sich bald sogar nach Nordosten 
um, direct demRothhom zu, dem gegenüber am ßoth- 
homsattel die mehrerwähnte, von Norden herabkom- 
mende Kette des Finsteraarhoms in Gestalt des rothen 
Eckens erstirbt. So scheint der Viescher Gletscher in 
beinahe eirundem Kreise von den drei Ketten des Fin- 
steraarhoms, der Viescher Hörner und der Walcher 
Hörner eingeschlossen zusein; allein er scheint es. nur, 
denn zwischen dem Rothhom und dem nordöstlichen 
Ausläufer der Walcher Homer erzwingt er sich einen 
Durchpass. Kaum ist er im Süden des Rothhoms an- 
gelangt, so stösst zu ihm der von der östlichen Ab- 
dachung des Finsteraarhoms, vom Studerhom und 
Oberaarhom kommende namenlose Gletscher, den wir 



75 - 



am gestrigen Abend passirt haben; die beiden Eis- 
ströme vermengen ihre Fluthen, schütteln sehr bald 
allen bisher getragenen Schnee ab und treiben in wilder 
Nacktheit , von Klüften und Schrunden wie kleingehackt, 
als eine schmale grüne Schlange nach Süden weiter, 
zwischen der Trift im Westen und dem Wasen- und 
Setzenhom Östlich hindurch, um nach einer letzten 
barschen Biegung dem Viescher Thal zuzueilen und da 
in zwei. Armen, nicht unähnlich dem geöffneten Schlan- 
genrachen, auszuzüngeln. 

Dies ist der Schauplatz unserer Abenteuer vom 
31. Juli, von welchen ich nun erzählen will. 

Als meine Führer um ^1^ 4 Uhr das kalte Früh- 
stück, bestehend in Schaf braten, Schinken, Wein und 
Schneewasser, zurichteten, wies der erblassende Mond 
einen Hof, und im Osten glühte ein Purpurroth, das 
mir für diesen entscheidenden Tag kein sonderlich gutes 
Augurium schien. Dann aber pflanzte es sich den vie- 
len weissen Bergspitzen mit, nahen und fernen. Wie 
wir sie vor wenigen Stunden vom Golde des Abends 
weg erblassen sahen, so stiegen sie jetzt von der kalten, 
todesähnlichen Nacht zu neuem Leben auf, durchglüht 
vom jungen Tag, und das herrliche Schauspiel erman- 
gelte nicht, auch unsere Herzen zu erwärmen und für 
das schöne Beginnen zu stärken. Wolken zeigten sich 
zwar auch im Westen, allein sie lösten sich bald im 
Hauche des Tages auf; nur über den Gipfeln der süd- 
lichen Walliser Berge blieben sie hartnäckig schweben, 
und zwar in fast militärisch genauer Front parallel mit 
dieser grandiosen Kette. 

Kaum hatte, um 4 Uhr, jenes weitverzweigte Alpen- 
glühen dem fertigen Tage Platz gemacht, so begaben 
wir uns auf den Marsch. Zum Viescher Gletscher hinab 
führt vom ßothhornsattel eine gefrorene Schneehalde, 



— 76 — 

WO sich's stellenweise vortreflQich auf den Beinen rutschen 
liess; und wo ein geübter Gletscherfahrer dieses kind- 
liche Vergnügen findet, da lässt er es nie unbenutzt. 
Wir waren also schnell unten. Da wollte aber der 
Deixel, dass einer der Führer die Bemerkung machte, 
etwas Wichtiges auf dem rothen Ecken liegen gelassen 
zu haben, dass er. folglich die Halde wieder zurück- 
steigen musste, was den Marsch um eine gute halbe 
Stunde aufhielt. Die Pause wurde jedoch einsichtig 
verwerthet. Von diesem Punkte an war das vor uns 
liegende Marschrevier allen meinen Führern so gut wie 
mir selbst eine unbekannte Gegend. Kaspar hatte sich . 
zwar vom alten Jaun — Gott hab' ihn selig! — und 
von den Schriften des ehrlichen Gottlieb Studer tüchtig 
instruiren lassen, so dass er mit gutem Gewissen die 
Pflicht übernehmen durfte, mich auf das Hom zu füh- 
ren; allein solche Instructionen können immer nur so 
weit reichen, dem Schüler die allgemeine Richtung an- 
zuweisen, für das Detail müssen sein Verstand und 
seine Geistesgegenwart selber sorgen. Nun bot gerade 
das erste Betreten des Viescher Gletschers eine Ver- 
führung dar. Nahm man die Richtung links, nach der 
östlichen Abdachung der Viescher Hörner, so gelangte 
man in ein prächtiges und allem Anscheine nach leicht 
passirbares Gletscherthal hinein, um nach einigen 
Stunden zu gewahren, dass man irre gegangen. Kaspar 
wusste wohl, dass man sich möglichst nahe an die 
Felsenkante zu halten hatte, welche vom rothen Ecken 
zum Finsteraarhorn hinansteigt, allein da wölbten sich 
vor uns allerlei breite Eisrücken, durchsäet von Guffer- 
inseln, und die Eisrücken versperrten den Blick nach 
den obern Lagen. Während der erzwungenen Rast 
wurde daher Jakob auf Recognoscirung gesandt, damit 
wir von Anfang an die rechte Richtung einschlügen. 



— 77 — ' 

So gewannen wir auf ein paar Stunden ganz gute 
Fühlung, immer im Schnee steigend, zwischen der 
Bergkette und den kleinen Felseninseln hindurch. Un- 
terdessen war der Tag wahrhaft herrlich aufgegangen. 
Der Segen dieses Jahres, der Föhn, hauchte uns milde 
an, und hinter den Walcher Hörnern hervor stieg nach 
und nach immer grossartiger der Stock des Aletsch- 
homs. Die feine weisse Spitze des Homs selbst er- 
kannten wir erst später in ihrem Glänze, denn die 
Felsenschultem drängen sich so hoch und breit zu ihr 
hinauf, dass der Berg lange Zeit eine' recht unge- 
schlachte Figur macht, eher schreckhaft, als schön. 
Weiter im Süden entwickelte sich die Walliser Kette; 
doch, so grossartig auch dieser Hintergrund ist, die 
Kolosse der nächsten Nähe packen so lebhaft die Auf- 
merksamkeit, dass man jene fernen Biesen nur gleich- 
sam als Zugabe mitnimmt. 

Die Fahrt ging ohne jede aussergewöhnliche Be- 
schwerde von statten. Es war eben ein beständiges, 
bald sanfteres, bald strengeres Steigen im Schnee, ohne 
besondere Schwierigkeit und namentlich ohne Gefahr. 
Nur Eines machte sich uns nach einigen Stunden spürbar, 
nämlich wieder die durchwanderte vorletzte Nacht, für 
welche das kalte Bivouac auf dem Bothhomsattel einen 
nur sehr spärlichen Ersatz geboten hatte. Diese nächt- 
lichen Strapazen Hessen uns Alle schneller die Müdig- 
keit fühlen, als es unter andern Umständen der Fall 
gewesen sein würde, weshalb ich denn auch die Zeit, 
die wir zur Erklimmung unseres Zieles brauchten, nicht 
als eine normale betrachtet wissen mag. 

Zwischen 6 und 7 Uhr pflogen wir unserer ersten 
Eastj, auf einem Gufferrücken, deren der Gletscher an 
dieser hohen Abdachung mehrere hervorstösst, um vom 
Absatz zu Absatz nach der Gletschersohle hinunter zu 



— 78 — 

gelangen. Hier versperrte aufs Neue eine höhere Wöl- 
bung die Aussicht, so dass noch einmal eine Becogno- 
scirung nöthig wurde. Diese nahm Kaspar selbst vor. 
Kaum hatte er die Höhe erreicht, so gab er uns sofort 
das Zeichen zum Nachrücken, denn dort war .der Weg 
wieder klar. Wie ich denn gleich hier bemerken 
will, dass die Ersteigung des Finsteraarhorns ungleich 
leichter ist, als man sich's bisher vorgestellt zu haben 
scheint. Wenigstens bis zum letzten Absätze, 600 Fuss 
unter der Spitze, bietet der Marsch durchaus keine 
Erscheinung dar, die nicht auf vielen andern Gletscher- 
bergen auch vorkäme. Man steigt nur hoch, recht 
hoch, ja! aber hiezu bedarf es blos einer ausdauernden 
Lunge, durchaus keiner besondem Courage. Von 
aussergewöhnlicher Gefahr keine Spur. Ebenso habe ich 
vergebens auf die berühmte Bergkrankheit gewartet 
Ausserdem zeigen dem Führer, der einmal im Besitze 
des Stichwortes ist, die Finsteraarhomkette zur Rech- 
ten, die mehrerwähnten Grufferinseln zur Linken, und 
in der Front der Marschroute die quer und von Absatz 
zu Absatz höher sich entgegenstemmenden Eisrücken 
die einzuhaltende Richtung deutlich an. Man braucht 
sich nur hübsch in der Mitte zwischen der Kette und den 
äussersten Inseln zu halten und die Eisrücken in gera- 
der Linie zu durchschneiden. Zur Linken der äusser- 
sten Inseln stürzt der Theil des Gletschers, auf welchem 
wir uns bewegen, steil und plötzlich nach dem Haupt- 
strom hinab, der vom Viescher Grat kommt und das 
früher erwähnte grosse Gletscherthal bildet. 

Etwas nach 9 Uhr erreichten wir den letzten jener 
Querrücken, auf dessen nördlicher Abdachung sich das 
Fimfeld ausbreitet, mit welchem das Finsteraarhom 
so prächtig nach Westen und Nordwesten hinausstrahlt 
und das zu Zeiten an schönen Sommerabenden zuletzt 



— 79 — 

verglüht, wenn selbst die Jungfrau ihr weisses Nacht- 
gewand anzieht und alle übrigen Berge der Nachbar- 
schaft dem Tag Ade gesagt haben. Jetzt standen wir 
aber auch so hoch, dass wir über die Kette der Viescher 
Hörner hinaus mitten in das ungeheure Eismeer des 
obem Aletschgletschers hinein blickten. Es war ein 
majestätisches Anschauen, diese weite, breite Gletscher- 
wüste, blendend in der Vormittagssonne. Links, als 
südwestliche Wacht, stand das Aletschhom da, das alle 
übrigen Gipfel überragt. Schnurgerade im Westen er- 
hob sich als blanker weisser Kegel die Jungfrau, doch 
taucht der Kegel mühsam aus der unendlichen Fim- 
masse hervor und seheint viel weniger sie zu beherr- 
schen, als von ihr beherrscht zu werden. Wenn die 
Jungfrau, von Bern, Interlaken oder der Wengemalp 
gesehen, gleichsam an die gestrenge Königin Elisabeth 
erinnert, so kehrt sie hier mehr die Natur des un- 
schuldigen Gretchens heraus: sie weiss nicht, dass sie 
schön ist; sie ahnt nicht, dass sie von der Welt be- 
wundert wird; die ganze gewaltige sie umgebende Welt 
ist wirklich auch grösser, und wer den mit Recht ge- 
feierten Berg nicht von Ruf und namentlich nicht 
von der wundervollen Gestalt, die er nach Norden 
weist, kennte, würde mancher andern Spitze dieses 
mächtigen Reviers einen hohem Rang zugestehen. 
Aber schön, rein ist und bleibt die Jungfrau auch 
hier. Nicht wenig tragen zur Erhabenheit des Ge- 
sammtbildes die beiden Arme bei, mit welchen die 
Jungrau die westlichen und nördlichen Wurzeln des 
Aletschgletschers umspannt: hier durch das Glet- 
scherhom, die Ebene Fluh, das Mittagshom und die 
sie verbindende Kette, dort durch den Mönch und 
seine Umgebung. Der Mönch macht hier eine noch 
bescheidenere Miene, als die Jungfrau, aber xmUebrigen 



— 80 — . 

schien er mir recht vergnügt auszusehen, indess der 
noch weiter nördlich gestellte Eiger mit seiner starren 
Felsenbekleidung mürrisch dastand, ungehalten zweifels- 
ohne, dass er an dem kolossalen Gletscherbilde nicht 
mitwirken darf, sondern i^ebenaus imter die Zuschauer 
verbannt ist. 

Das Fimfeld, das wir jetzt betraten, kostete uns 
manchen sauem Schweisstropfen» und manchen schweren 
Athemzug. Es ist ungemein steü, so dass wir lange 
Strecken im Zickzack und auf sehr kurze Etappen 
marschirten. Namentlich an einer Stelle, an welcher 
wir, wenn ich mich recht besinne, bei drei Viertel- 
stunden laboriren mussten, war es so stark von unten 
nach oben gewölbt, dass mir manchmal schien, wir 
kröchen. Fliegen gleich, auf der Oberfläche einer grossen 
Kugel. Zu Allem machte die Sonne auf höchst em- 
pfindliche Weise ihre baldige Mittagshöhe geltend: sie 
brannte lästerlich auf den blendenden Firnschnee, gegen 
dessen stechenden, aber unaussprechlich schönen Wi- 
derglanz das Auge selbst durch die doppelte Hülle der 
blauen Brille und des Schleiers nur spärlich geschützt 
war. Die Hitze von aussen und die höchste Anspan- 
nung der Lunge und der Muskeln hatten schon so 
ziemlich Alles, was sich im menschlichen Körper zu 
Schweiss gestalten kann, ausgepresst, die Hautporen 
waren nachgerade so trocken, wie das Bett der tro- 
pischen Flüsse vor Eintritt der Regenzeit, die Sonne 
brannte auf unsere verschmorten Gesichter wie auf 
wasserleere, oasenlose Wüsten. Wenn ich und meine 
Gefährten eine Woche lang nachher wie halbe Men- 
schenfresser ausgesehen haben — von mir wenigstens 
bezeugt es der Spiegel — , dann müssen die paar 
Vormittagstunden das Meiste an dieser Wandelung 
verantworten. 



— 81 — 

Endlich ward doch auch dies überwunden. Um 
V2II Uhr erreichten wir denHugisattel, das heisst den 
scharfen Berggrat, der den obersten Fuss des Finster- 
aarhorns bildet. Hier, auf einer Höhe von 4080 Me- 
tern (12,560 Fuss), also genau auf gleicher Linie wie 
die höchste Spitze des Schreckhoms, nimmt der Firn 
ein Ende, weil ihm die übergrosse Steilheit der Finster- 
aarhomspitze keinen bleibenden Halt gestattet. Seinen 
Namen führt der Sattel zu Ehren des Solothumer Natur- 
forschers Hugi, der am 10. August 1829 die erste 
beglaubigte Ersteigung des Finsteraarhorns veranlasste. 

Auf dem Hugisattel trafen wir eine herrliche Aus- 
sicht. Westlich schauten wir siegreich über das Agas- 
sizhom und das Grosse Viescher Hom hin; östlich ragte 
der Gipfel des Finsteraarhorns etwa 600 Fuss hoch in 
die Luft; nordwärts schoss von unsern Füssen weg, so 
zu sagen pfeilschnell, ein schmales Fimfeld zum Fin- 
steraargletscher hinab; hinter dessen jenseitigem Ufer 
unter vielen und sämmtlich überwundenen Bergen das 
Schreckhorn mit seiner zierlichen weissen Krone auf 
dunkler Granitpyramide emporstrebte, wie gesagt, in 
gleicher Höhe mit uns. Nach Süden und Westen 
schweifte der Blick über Viescher und Aletsch-Gletscher 
hin und über ihre Gipfel hinaus an die Walliser Kette 
und zum Montblanc. 

Hier muss ich den Herren Physikern eine Nuss 
zum Knacken aufgeben. Was mich nicht am wenig- 
sten zur Ersteigung des Finsteraarhorns J)ewog, war 
die Stelle in Gottl. Studer's „Panorama von Bem"^ 
p. 223, worin gesagt ist, Hugi habe etwa 200 Fuss 
unter der Finsteraarhomspitze (auf die Spitze selbst 
wagten sich nur seine Führer Leuthold und Währen) 
einzig das nahe Schreckhorn und die Viescher Homer 
deutlich sich hervorheben sehen; die kaum drei Stunden 

Roth, Flnstera^irhornfabrt. 6 



— 82 — 

entlegenen Kuppen der Jungfrau, des Eigers und des 
Mönchs hätten sich bei weitem nicht in so bestimmten 
Umrissen gezeigt, als sie von Solothum, aus einer 
Entfernung von 18 Stunden, gesehen werden. XJeber 
das Hasli- und Lötschenthal hinaus sei nichts Einzelnes 
mehr sichtbar gewesen, und doch habe die Atmosphäre 
vollkommen günstig geschienen. Studer fügt hinzu, ein 
Jahr später hätten sich diese Lichterscheinungen wieder- 
holt. Als Leuthold und Währen die Spitze erkletterten, 
hätten ihnen eine Menge Menschen auf der Grimsel 
durch den Tubus Zugesehen und sich darüber streiten 
können, wer, da sie nur zwei statt der erwarteten drei 
Männer gewahrten, die Beobachteten waren; die Männer 
auf dem Hom aber hätten, obschon mit besserem Tubus 
bewafinet, und beim hellsten Wetter, nicht einmal das 
Thal der Grimsel, noch den See, noch den Spitalberg 
unterscheiden können. Ich gestehe, diese Mittheilung 
reizte meine Neugier in hohem Grade: ich hätte gar 
zu gern die Beobachtung gemacht, wie es einem Men- 
schenkind zu Muthe sein mag, das dergestalt der Erde 
gleichsam entrückt ist und ein paar Minuten im gren- 
zenlosen Universum schwebt. Ich versprach mir hier- 
von einen mächtigen und eigenthümlichen Effekt, und 
ich trat daher die Beise mit der festen Erwartung an, 
hier oben im Himmel drinnen auch bei gutem Wetter 
von unserm armen Planeten so viel wie nichts zu sehen. 
Wie sehr war ich nun erstaunt, das vollständigste 
Gegentheil des Erwarteten zu finden, nämlich eine Klar- 
heit, eine Schärfe in den Umrissen auch der entfern- 
testen Gegenstände, die nichts zu wünschen übrig liess. 
Wenn Leuthold und Währen durch den Tubus nicht 
die Grimsel entdecken konnten, so haben wir dagegen 
freien Auges sehr deutlich die einzelnen Häuser im 
Grindelwaldthal unterschieden. Auch in die fernen 



— 83 — 

Berge hinein schauten wir so klar, wie das Jahr vor- 
her von dem nicht 9000 Fuss hohen Schwarzhom; 
nur mit dem Unterschiede, dass sich uns hier eine 
unendlich umfassendere Welt aufthat. Gleiche Erschei- 
nung eine Stunde später auf dem Gipfel des Finster- 
aarhoms selbst. An der Richtigkeit der oben erwähn- 
ten, mit unsern Wahrnehmungen so stark contrastiren- 
den Erscheinungen ist nicht zu zweifeln; allein worin 
mag wohl der Grund so merkwürdiger DiflFerenzen 
liegen? Sollte der feine dünne Föhn, der zu unserer 
Zeit durch die gesammte Alpenwelt strich, ganz allein 
im Stande sein, solche Wunder zu verrichten? 

Doch genug des gelehrten Zeugs, und lasst uns 
keck die letzte Etappe beginnen. 

Wir hatten eben eine neue Stärkung zu uns ge- 
nommen und schickten uns zum Aufbruch an, als die 
Aufmerksamkeit durch zwei lebendige Wesen in An- 
spruch genommen wui^de: ein** paar Bergdohlen flogen 
vom Felsen auf und flatterten fröhlich über den Firn 
hin. Was müssen dies für närrische Vögel sein, dass 
sie ihren Tummelplatz in so enorm entlegenen Höhen 
suchen, während die Welt doch so weit ist. Oder 
wollten sie spottend uns an unsere eigene Narrheit 
erinnern? 

Es war etwa Va 12 Uhr, als wir uns an die letzte 
Arbeit machten. Die Finsteraarhomspitze erhebt sich 
von dieser Seite mit ihren etwa 600 Fuss als eine 
gewaltig steile und dünne Felsenscheibe. Es ist eigent- 
lich mehr nur ein jäher Grat, der auf seinem höchsten 
Punkte einem zu gleicher Höhe gelangten Quergrat 
begegnet und dergestalt den Gipfel des Berges im 
Dreieck zuspitzt, die eine Wand nach Norden, die 
andere nach Osten, die dritte nach Süden weisend. 

Um den von Westen aufsteigenden Grat erklettern zu 

6* • 



— 84 — 

können, mass man sich gänzlich schwindelfrei fühlen. 
An der Nordseite ist die Wand so entsetzlich scharf 
abgeschnitten, dass sie auch nicht an der kleinsten 
Stelle, den Fuss hinzusetzen erlaubt; die südliche Wand 
hingegen, obschon auch ausserordentlich steil, ist gang- 
bar oder, besser gesagt, zu erklettern. Es geht nicht 
anders, als auf allen Vieren, Hände und Füsse finden 
ununterbrochen zusammen zu arbeiten, und es ist sehr 
nöthig, dass bei jedem Schritt beide Füsse auf sichern, 
festen Stein treten und bei jedem neuen Ausholen beide 
Hände sich an sichern festen Stein anklammem. Diese 
südliche Wand ist nämlich reich mit verfaultem schie- 
ferigem Gestein bekleidet, das sich beim Anfassen löst 
und dann polternd stürzt, um entweder bald durch 
einen grossem Stein in seinem Lauf aufgehalten zu 
werden, oder, wenn es selbst das schwerere ist, eine 
Menge andern Gesteins aufzustören und mit ihm ein 
rasendes Wettrennen in unergründliche Tiefen zu eröflf- 
nen. Obschon wir bei dieser hie und da etwas kitzligen 
Fahrt kein Wort sprachen, sondem schweigend Einer 
hinter dem Andern der von Kaspar gezeichneten Spur 
folgten, war es doch ein ziemlich geräuschvolles Ge- 
schäft; es verging, glaub^ ich, keine Minute, dass nicht 
unter diesem oder jenem Fusse der Stein brach und 
seinen wilden Tanz begann, oder dass der Hand, die 
ihren Mann in die Höhe ziehen sollte, der ange- 
&sste Stein in der Faust blieb und dann verächtlich 
in den Abgrund geschleudert wurde. Glücklicherweise 
war aber auch des festen Granits genug vorhanden, 
auf welchem man sicher vorwärts kam; man durfte nur 
bei keiner einzigen Bewegung die goldene Regel ausser 
Acht lassen: Trau, schau, wem. Fiel in das fast drol- 
lige Concert von rutschenden, rollenden und springen- 
den Steinen dann und wann ein dumpfer Basston ein, 



-So- 
so entstand wie auf Kommando ein plötzlicher Halt in 
unserer Kolonne und es wurde dem Schauspiel zuge^ 
sehen. Dann war es nämlich ein Kerl, der gut seine 
paar Zentner wog und auf festen Felsen nicht gerutscht 
war, sondern gesetzt hatte, der Anprall verlieh ihm 
neuen Schwung und nun sprang der Stein, in oft 
prächtigen Sätzen ricochettirend, nach dem gewaltigen 
Abgrund. 

Wie doch das Liebliche und das Wilde so nahe 
beisammen wohnen! Einer jener Steinstürze war kaum 
verhallt, als auf einmal aus der gleichen Tiefe, wohin 
der Block gefallen, ein paar Fluhlerchen, kleine graue 
allerliebste Vögelchen, heraufgezwitschert kamen, sorg- 
los an uns vorbeiflogen und nicht eher ruhten, als bis 
sie ihren Fuss auf die höchste Spitze des Horns gesetzt. 
An dieser Stelle hätte ich eher einen grimmen Lämmer- 
geier mit wuchtigen Schwingen erwartet, als solch' ein 
leichtbefiedertes Liebesvölkchen. 

„Vorwärts! vorwärts!" kommandirte Kaspar. 

Jetzt packen meine Hände, beide zusammen, einen 
zackigen Grat, sie rütteln ferm dran, aber er sitzt 
urfest; ein Euck, und der Oberleib hebt sich auf den 
Grat, der Kopf aber schwebt plötzlich über dem nörd- 
lichen Abgrund der gewaltigen Felsenscheibe, und senk- 
recht, etwa 5000 Fuss tief, schiesst der Blick zum 
grünen Strome des Finsteraargletschers hinab. Beim 
Zeus, hier darf es euch nicht schwindeln! 

„Vorwärts! vorwärts!" 

Kaspar hatte Recht, denn dieser grause senkrechte 
Absturz war im Stand, auch dem Festesten Sinne und 
sichern Blick zu verwirren. Wir bogen rasch wieder 
in die südliche Wand hinein. Allein es half wenig. 
Auch die Südwand hat hie und da ihre glatten, un- 
gangbaren oder getährlichen Stellen, und wenn man 



— 86 — 

einmal auf die Spitze wollte, so musste man zeitweise 
immer wieder zur Gratscheide zurückkehren, um auf 
ihrem schmalen Pfade den Körper über zwei Abgründen 
zu wiegen. 

Diese Kletterung an der Spitze des Homs dauerte 
eine Stunde und war mir im Uebrigen ein recht unter- 
haltendes Stück, da es mir jederzeit am Felsen, auch 
wenn er noch so steil, weit wohler ist, als auf dem 
trügerischen Eise. Nur aufpassen, nur immer aufpassen. 

Als wir um Va 1 Uhr einen neuen Felsenabsatz 
überklommen hatten, ha! da lag der Gipfel des Finster- 
aarhorns vor uns in allernächster Nähe. Die Felsen- 
scheibe war etwas ausgeweitet und auf ihrem höchsten 
Punkt ragte ein aus losem Schiefer aufgemauertes 
Steinmannli auf, an der östlichen Wand aber, gegen 
die Grimsel zu, hatte sich eine Schneewechte angesetzt, 
nicht unähnUch einem ausgeflogenen Bienenschwarm, 
und die Wechte theilte sich noch weiter der östlichen 
Abdachung des Felsens mit. Heller Jubelruf verkün- 
dete das erreichte Ziel, aber gleich darauf folgte ein 
allgemeines frommes, stummes Staunen über die Uner- 
messlichkeit der rings um uns ausgebreiteten sonnigen 
Welt. 

Dem, der noch nie mit eigenen Augen solche 
Herrlichkeit genossen, einen Begriff von derselben zu 
geben, ist rein unmöglich. Wenigstens ich kann mich 
nur annähernd mit Vergleichungen behelfen. Bedet 
dem Norddeutschen, der noch keine Berge gesehen, 
vom Eigi: ihr braucht nicht ßedner zu sein, euer nur 
schon von der Erinnerung trunkener BUck weckt gross- 
artige Bilder im Hörenden auf, und wenn dieser erst 
selbst so glücklich ist, an einem hellen Nachmittag den 
ewig schönen Weg von Weggis nach Rigikulm zu gehen, 
dann verscheucht die nackte, grössere Wirklichkeit alle 



— 87 — 

seine noch so kühn geträumten Gebilde der Phantasie 
und sie verfliegen mit den Nebeln des See's in matte 
Phantome. Lasst ihn vom Rigi zum Faulhom steigen 
oder zum noch preiswürdigeren Schwarzhöre, zum 
Sidelhom oder Titlis: da wird er inskünftig den Rigi 
als einen allerliebsten hoffnungsvollen kleinen Jungen 
lieben, in den Letztgenannten aber die Symbole der 
bewussten Jugend finden, die den Idealen nahesteht 
und sehnsüchtig zu ihnen hinaufstrebt, hoffend, sie eines 
Tages erreichen zu können. Führet ihn von da auf 
den Piz Languard: und er trifft den gemachten Mann, 
der festen BUcks sein Leben und seine Zeit überschaut. 
Mehr kann man einem richtigen Menschen nicht zu- 
muthen. Wohlan, ni^n lasst es ihm schliesslich ge- 
lingen, sich zu uns auf den Gipfel des Finteraarhoms 
zu erheben, in demselben Sonnenschein, in derselben 
fbhnklaren Luft: und er steht vor einem Herrscher, 
einem Helden, der nicht allein sich selbst und seine 
Zeit in der Hand hat, sondern einem Jahrhundert den 
Stempel des Genies aufdrückt. Wer vom Flachlande 
her kommt und zum ersten Mal unsere hübschen und 
mit Recht berühmten Vorberge besteigt, wird ungleich 
weniger erstaunen, als derjenige stutzt, der die Aus- 
sichten der Vorberge kennt, sich danach die Wirkung 
der höchsten Alpengipfel glaubt vorstellen zu können 
und eines Tages wirklich auf einem solchen steht. Es 
ergeht ihm dann wie jenem Weisen, der am Ende eines 
von genialem Denken erfüllten Lebens das Geständniss 
ablegte, das Ergebniss alles seines Wissens sei, dass 
er nichts wisse. Ganz eben so begreiflich unbegreiflich 
ist die Wirkung des Ungeheuern, das der Gipfel des 
Finsteraarhorns weist, ist das Bewusstsein, über Alles, 
Alles hin zu schauen, was die Menge als kühn, gross 
und erhaben preist, und dabei doch den! Kleinsten 



— 88 — 

noch nahe zu bleiben, wie jenen 10,000 Fuss tief unten 
in der Mittagsonne glänzenden Häuschen des Grindel- 
waldthales. 

Sehr wohll — höre ich erwidern — da man vom 
Strassburger Münster und vom Dom in Mailand zu- 
gleich das Finsteraarhorn sieht, so muss umgekehrt der 
König der Berner Alpen auch die Kapitalen des Elsasses 
und der Lombardie beherrschen, und ein gut Stück 
Land über beide hinaus, und Alles, was dazwischen 
liegt, ja Alles, was in die Peripherie dieses gewaltigen 
Durchmessers fällt, mit einziger Ausnahme dessen, was 
die noch höhere Kette der penninischen Alpen gegen 
Piemont hin 'verdeckt. Gewiss, etwas Kolossaleres, 
etwas Majestätischeres lässt sich nicht leicht denken, 
und diese Ungeheuerlichkeit mag an und für sich schon 
ein Genuss sein. Ich begreife den mächtigen Eindruck, 
oder wenigstens ahne ich ihn. Allein 

Was, allein? 

Allein es muss doch eigentlich ein endloses Nichts 
sein, gewissermassen ein idealisirtes Chaos, wo Gross 
und Klein in einander schwimmt, alle Verhältnisse sich 
verrücken, die Form verflacht, die Farbe erlischt und 
nur eine unübersehbare Masse daliegt, wie willenlose 
Sklaven im Staube zu den Füssen ihres erhabenen 
Gebieters. 

Halt, Grübler! dahabe ich dich am rechten Fleck. 
Erinnere dich, dass unser Held ein Schweizer ist, ein 
Berner gar. Da läuft es natürlich ohne gehöriges 
Selbstbewusstsein nicht ab, und sogai* ein wenig Stolz 
mag hingehen; allein gedeihen und herrschen kann hier 
nur der Gleiche unter Gleichen. Und gerade das ist's, 
was dem Finsteraarhorn seine schönsten Zauber ver- 
leiht. Es herrscht eine wunderbare Fülle in diesen 
Ausblicken*, das Viele aber sammelt sich wieder in drei 



— 89 — 

kolossalen Gruppen, deren jede [für sich allein die ganze 
Finsteraarhornfahrt werth wäre. 

Sieh' dal 5000, vielleicht 6000 Fuss schnurgerade 
zu unsern Füssen spreizt sich der Finsteraargletscher. 
Links kommt er von der Strahleck herab als ein mäch- 
tiger meergrüner Strom, seine Wogen baden den Fuss 
des Homs und drohen ihn zu unterwühlen; doch das 
wuchtige Eis prallt ohnmächtig ab am Granit und 
flüchtet in strömendem Bogen von dannen. Lange 
schwarze Gufferlinien folgen der krystallisirten Fluth 
und vollenden die Täuschung, dass man meint, der 
Gletscher woge und rausche und werde drüben hinter 
dem nächsten Berg als ein zweiter Niagara zerstäuben. 
Fort! weg den Blick! er verwirrt dir den Sinn und 
reisst dich hinab mit geheimnissvoller Gewalt! — Schau', 
wie am jenseitigen Ufer sich eine kecke Bergwand er- 
hebt und in der wunderbar schlanken Pyramide des 
Schreckhorns ausgipfelt. Wir sehen hinunter auf die 
zierlich weisse Krone, die seine dunkle Gestalt schmückt, 
über sie hinüber zum Wetterhom, und über das Wet- 
terhorn hinaus in die weite nördliche Welt. Ja wohl, 
hier verschwindet der Blick im horizontlosen All, wo 
selbst Jura und Vogesen und Schwarzwald sich ver- 
flachen wie zertretener Kies auf der Heerstrasse. Der 
Blick eilt zurück zum schauerlich schönen Abgrunde 
des Gletschers und bleibt, selbst starrend, an das star- 
rende Wunder gebannt. Doch auch diesmal weile nicht 
zu lang bei dem Bilde, es liegt eine verrätherische 
Schwindelkraft darin, wie auf hochgehender See im 
Anstaunen der Wogen, die an die Schiffsplanken schla- 
gen; und wie wollten wir von unserer luftigen Felsen- 
scheibe wieder heil zur Niederwelt zurückgelangen, 
wenn uns die Sinne verliessen und dem Leibe ihren 
Beistand verweigerten? 



— 90 — , 

Am Ende kostet es auch keine sonderliche lieber- 
Windung, vom Grausig-Grossen zum Feierlich-Erhabenen 
überzugehen; und diesen Gegensatz bietet im Vergleich 
zur nördlichen Aussicht der Blick nach Westen und 
Süden und nach alle der HerrUchkeit, welche diese 
zwei Badien einschliessen. Da zeigt sich zunächst, 
wieder hart zu unsem Füssen, der grosse weisse Kessel 
des Viescher Gletschers. Dann folgen wir dem Viescher 
Grat bis zum Mönch hin und sehen, wie der Grat 
rechts die Firne des untern Grindelwaldgletschers ent- 
sendet, links aber dem gewaltigen Circus des Aletsch- 
gletschers zur nördUchen Grenze dient. Noch weiter 
rechts steht beinah' isohrt der Eiger hinter dem Glet- 
scher, und die Starrheit dieses Berges wird nur dadurch 
gemildert, dass unmittelbar neben ihm aus fernem 
grünem Grunde das Dorf Grindelwald herauf lugt. Links 
vom Viescher Grat in gemessener Entfernung : die Jung- 
frau und ihre Kette, die ihr von Murren aus so lebhaft 
bewundert. An alle Kulme und an alle Sättel dieses 
mächtigen Halbkreises hinauf strebt der Aletschgletscher 
mit ungeheurer Wucht, er erdrückt die Sättel, ja 
manchmal selbst die Bergspitzen, und wenn es ihm 
nicht gelingt, auch die gefeiertsten Gipfel in der eisigen 
Masse zu begraben, so reisst er doch unerbitthch Allen 
den Zauber der Unnahbarkeit und überragender Hoheit 
vom Haupte. Er ist ein höchst demokratischer Kerl, 
dieser Aletsch, wie er mit den Majestäten Mönch und 
Jungfrau umspringt, wie er sie zwingt, recht buch- 
stäblich bis an den Hals im Volke zu stecken. Und 
was dabei das Schönste: die Gesammtheit verliert nichts 
dabei; im Gegentheil. Es ist nicht nur eine merkwür- 
dige Abwechslung, hier einmal, statt die hochgebomen 
Gipfel über die Gletscher, umgekehrt die hochwogende 
Gletscherfluth über die GipfeL herrschen zu sehen; es 



— 91 — 

ist zugleich eia imposanteres Schauspiel, weil eine die 
einzelnen Berge weit überragende Masse in Thätigkeit 
tritt und das schimmernde Weiss dieses Firnmeeres 
sich in entzückende Harmonie setzt mit dem schwarz- 
blauen Himmel. Nur Einer ist, der, am südwesthchen 
Saume des Firnes, noch pompöse dasteht und durch 
seine hochstrebende weisse Gipfelpyramide verräth, dass 
er sich einzig vor dem Finsteraarhom beugt: das 
Aletschhom. Doch auch von diesem weg fliegt das 
Auge mit Vorliebe wieder zur tonangebenden Macht 
dieser Region zurück. Nicht durch die Grösse allein 
packt der Aletschfim den Beschauer, und durch sein 
herrliches Weiss, es hegt zugleich eine wunderbar er- 
habene Ruhe in ihm, und er dämpft recht eigenthch 
die Leidenschaft, die eben noch der reissende Strom 
des Finsteraargletschers erweckte. Und wie grossartig, 
bald hätt' ich gesagt, wie überirdisch muss diese Ruhe 
erscheinen, wenn man bedenkt, dass von den vielen 
Bergen und Gräten, welche den Aletsch einfassen, eine 
geradezu zahllose Menge einzelner Firne und Gletscher 
zu seiner Sohle hinabstürzen. Kleinere Reviere, wie 
der Wetterkessel am Fusse des Wetterhoms, werden 
durch einen solchen von allen Seiten erfolgenden An- 
sturm mächtig aufgerührt gleich einem brodelnden 
Gischt; der Aletsch aber saugt Alles auf, wie der 
Bergsee die tobenden Wasserlalle, und er begräbt selbst 
den wildesten Firnsturz unter seinem ruhigen Plan. 

Und nun schweifet einen Augenblick über Viescher 
und Aletsch-Gletscher hinaus in die Weite. Da schliesst 
das Bild nicht, wie im Norden, mit leerer Fläche und 
unbegrenztem Horizont, wo Himmel und Erde in ein- 
ander aufgehen, sondern wir beherrschen in einem 
Blicke die gesammte Südgrenze des Wallis und noch 
mehr dazu: die langgestreckte Kette, die mächtigste 



— 92 — 

unsers Erdtheils, vom St. Gotthafd zum Monte Rosa 
und vom Monte Rosa bis zum Montblanc. Und doch — 
werdet ihr's glauben? — überwältigt auch dieser kolossale 
Anblick nicht mehr, er bildet nur einen wundervollen 
Rahmen zum Aletsch und seinem näheren Bergkranze, 
der immer und immer wieder die Sinne gefangen nimmt 
durch strahlende Pracht und majestätische Ruhe. 

Während ich in diese Betrachtungen versunken 
war, that der Menk seine Pflicht. Er wusste, was 
man einem wackem Berge nach seiner Besiegung 
schuldig ist: er hatte in seiner Wammstasche eine 
währhafte Flasche mitgebracht, um sie auf das Wohl 
des Homs zu kredenzen, und war nun mit der Ent- 
korkung beschäftigt. Jakob hatte den Auftrag, das 
Wahrzeichen der Ersteigung, das rothe Fahnentuch, 
an einen Alpstock zu befestigen, und Kaspar, der 
Chef, that einen prüfenden Blick in das Steinmannli, 
das auf dem höchsten Punkt der Spitze, die an zwei 
Seiten des Mannli auf unebenem Grund uns Allen zu- 
gleich nur spärlich Platz gestattete, errichtet ist. Die 
aus losem Schiefer, wie ihn der Gipfel des Finsteraar- 
horns reichlich aufweist, thurmartig aufgebaute Mauer 
zeigte, nachdem man einige Steine gelüftet, in ihrem 
Bauche mehrere Flaschen. Bis auf eine aber waren 
sie sämmtlich an die Steine angefroren, weshalb wir 
sie unangetastet Hessen. Die eine lose aber wurde 
geöffnet, und wir fanden darin die Karte eines eng- 
lischen Reverend. Dann notirte ich auf ein Blatt Papier 
auch unsere Besteigung, worauf der Prophet und das 
Weltkind in traulicher Eintracht zum Flaschenhals hin- 
einschlüpften, um schon vier Tage nachher von drei 
Engländern in Begleitung des renommirten Führers 
Melchior Anderegg von Meningen wieder an's Tages- 
licht gezögen zu werden. 



— 93 -^ 

Nachdem die Flasche versorgt und sorgfältig zu- 
gemauert war, handelte es sich um das Aufpflanzen der 
Fahne. Dies bildete einen etwas schwierigen Casus. Ihr 
natürlichster Platz war die Spitze des Steinmannli's, und 
hier wäre sie leicht zu errichten gewesen; nun wurde 
aber diese Spitze von der vorhin erwähnten Schnee- 
wechte überragt, und zwar bösartiger Weise just in 
der Richtung der Grimsel, wo wir die Weisung hinter- 
lassen hatten, uns an diesem Nachmittag aufzupassen, 
um durch Entdeckung unserer Fahne die Besteigung 
zu constatiren. Hätten wir das Tuch auf die Mauer 
gepflanzt, dann würde es in der Grimsel nicht gesehen 
worden sein. Es blieb somit für unseren Zweck keine 
andere Stelle übrig, als die Höhe der Wechte. Aber 
die Wechte war eben eine Wechte, d. h. ein horizontal 
am senkrechten Felsen hangender Schnee, von dem 
man nicht wissen konnte, ob er seinen Mann trage; 
und diese angeflogene weiche Masse hing über einem 
Abgrunde von vielen tausend Fuss. — Pah! Hatte 
nicht ein Jahr vorher auf dem Wetterhorn der Menk 
unsere Fahne auf einem gleich gefährlichen Punkt auf- 
gepflanzt? warum sollte es jetzt schlechter gehen? So 
dachte Kaspar, besann sich nicht lange, reichte seinen 
Brüdern das Ende des um seinen Leib geschlungenen 
Seiles, schwang sich behend, die Fahne in der Hand, 
auf die Mauer, kroch von seiner Spitze weg behutsam, 
sehr behutsam, in den Abgrund hinaus, auf die höchste 
Wölbung der Wechte und steckte die Stange mit 
kräftigem Stoss tief, bis an's Tuch, in den Schnee 
hinein. Dann kroch er eben so sachte rücklings zur 
Mauer zurück und nahm von dieser einen jauchzenden 
Sprung auf das sichere Felsenpostament. Vier Tage 
später hat Anderegg die Fahne von der gleichen Stelle 
weggehoben und auf die Mauer verpflanzt. 



— 94 — 

Das rothe Tüchlein knatterte so muthwillig in der 
Luft, als wollte es von dannen fliegen, und seine warme 
Farbe nahm sich recht eidgenössisch aus auf dem 
blanken Schnee. Allein nun mussten auch meine 
Blicke wieder mit in die Weite schweifen, und sie 
eilten in eine überaus grossartige Welt hinaus. Zu 
Füssen gen Südosten lag jener namenlose Gletscher, 
den wir gestern in der Abenddämmerung überschritten, 
und der Gipfel des Oberaarhoms schaute sehnsüchtig 
zu uns herauf. Beides beschäftigte nicht lange, wir 
waren bereits durch die westliche Aussicht verwöhnt; 
mehr zog die Welt hin, die sich nach Osten und Süd- 
osten in die Feme dehnte. Auch die Reviere des 
Triftgletschers und der Gotthardsstock mit ihren Aus- 
strahlungen hielten die Aufmerksamkeit nur eine kurze 
Weile fest; denn hinter der nordsüdlichen Linie, welche 
die Thäler der Reuss und des Tessins beschreiben, 
begann ein eigentlich grenzenloses Meer von Bergen, 
Bergketten und Berggruppen, verschneite und unver- 
schneite, und es gehörte ein förmliches Studium dazu, 
um nur einen Anhaltspunkt zu finden, der in das Ge- 
wühl einen topographischen Sinn brächte. Ich glaube, 
wenn dieses Meer von Bergen ein vollkommenes Chaos 
bliebe, so müsste sein Anblick schon ein wunderbarer 
Genuss sein, einzig und allein durch die über jeden 
auch noch so grossen hergebrachten Massstab weit 
hinaus reichenden Proportionen, wo kein einzelner 
Berg mehr etwas gilt, mag er lange seine 10,000 und 
11,000 Fuss übersteigen, wo selbst ganze bedeutende 
Bergketten mit Mühe aus den Tausenden von Gräten 
und Quergräten hervorgesucht werden müssen. Man 
ist aber vollends bezaubert, weim man bei näherem 
Betrachten auch hier wahrhaft schöne Motive mit- 
spielen sieht, die dem unermesslichen Ganzen Gliede- 



- 95 — 

rung verleihen und mit der GKederung den grossartigen 
Effekt verdoppeln. Gleichsam wie in göttlichem üeber- 
muth hingeschleudert, um als strahlende Leuchtthürme 
aus dem Gewoge emporzuragen, sind in starken Zwi- 
schenräumen hintereinander schimmernde Fimstöcke 
aufgepflanzt, Säule unter dem Volke der Philister: erst 
die Gruppe des Piz Valrhein in Graubünden, deren 
Gletscherquellen zu gleicher Zeit der Nordsee und der 
Adria zuströmen ; dann der Beminastock, der Herr des 
VeltKn's und des Oberengadin's, wo der Inn seinen 
Lauf zum fernen Euxin beginnt; endlich links hinter 
ihm, nach Norden abweichend, der schlanke Orteies 
und die Oetzthaler Femer in Tyrol, und rechts noch 
viel weiter zurück, nach breitem leerem Räume, in 
dessen Tiefe die lombardische Ebene und das Becken 
des Gardasee's liegeh muss, eine im Horizont halb ver- 
schwimmende Kette, wohl dieselbe, die das südliche 
Tyrol vom Venetianischen trennt. Während nach Nor- 
den hin die Gesichtslinie bald zusammenschrumpfte, 
weil das Flachland keine Anhaltspunkte bot, kann hier 
gegen Südosten das Auge, so weit nur die Rundung 
der Erde es gestattet, dem Raum in fabelhafte Femen 
folgen, weil es Alpen sind und aus der unzählbaren 
Masse des niederen Volkes jene befimten und isolirten 
Gestalten als Merkzeichen der enormen Distanzen auf- 
tauchen. Sie reissen den Blick und mit dem Blicke 
die Phantasie des Schauenden überwältigend hin. Wie 
diese Femen an's ünermessliche grenzen, so ist mass- 
los auch das entzückte Staunen des Glücklichen, der 
einen solchen Tag erlebt. 

Eine halbe Stunde lang drehte ich mich oft und 
oft im Kreise, von einer Gruppe zur andern: vom 
Finsteraargletscher zum Aletschfim, vom Aletschfim 
zum Ausblicke nach Südosten, und vom Südosten zum 



— 96 — 

Finsteraargletscher zurück. Die Luft hauchte uns so 
köstlich warmfrisch an, dass wir es ohne alle Beschwer 
einige Stunden ausgehalten hätten. Leider war es uns 
aber nicht vergönnt, diese Zeit auszudauern. Jetzt 
nämlich begann Kaspar's Wetterkunde einen kleinen 
Triumph zu feiern. Man erinnere sich, dass mein 
Führer s^uf diesen Tag eine Erisis vorausgesagt hatte, 
und eben zu dieser Stunde trat sie ein. Jener lange 
Wolkenzug, der während des Vormittags über den 
Walliser Alpen geschwebt, doch ohne uns deren Kulme 
zu verdecken, war bereits in Bewegung gerathen und 
trieb, vom Südwest gestossen, mit Macht den Bemer 
Alpen zu. Vor sich her . sandten die Wolken einen 
feuchten Nebelwind. In spätestens einer Stunde mussten 
sie uns erreicht haben. Kaspar befahl beim Anblicke 
dieser Erscheinung den Rückzug, damit, falls es eine 
Weile arg werden sollte, wir uns an einer deckenden 
Felsenwand befänden und nicht allen Winden des kom- 
menden Sturmes preisgegeben wären. Man begreift, 
wie sehr es schmerzen musste, so bald von den Wun- 
dern des Finsteraarhoms zu scheiden, doch durften 
wir dem Himmel unmöglich zürnen, der uns die schöne, 
die über alle Beschreibung schöne halbe Stunde ge- 
gönnt, während welcher wenigstens das Grösste in 
festen, klaren Zügen sich dem Gedächtniss einprägen 
konnte. 

Die ßückkletterung ging in gleicher Weise und 
gleich geräuschvoll vor sich, wie das Aufsteigen; nur 
dass man diesmal beständig alle Abgründe im Gesicht 
hatte und deshalb doppelt sattelfest in der Schwindel- 
losigkeit sein musste. Nach drei Viertelstunden, um 
%2 Uhr, standen wir neuerdings auf dem Hugisattel, 
nahmen das hier gelassene Gepäck zu Händen und 
eilten spornstreichs, so gut es immer der über Mittag 



~ 97 - 

stark erweichte Schnee gestattete, den Hochfirn hinab. 
Rascher und rascher kam aber auch das Wetter uns 
entgegen. Schon war das Aletschhorn von den Wolken 
in Besitz genommen und ein Regenwind blies mit 
Macht über den Viescher Gletscher zum Finsteraarhorn 
herüber. Es dauerte nicht lange, so war auch dieses 
unseren Augen entrückt und wir bekamen einen Regen- 
schauer in's Gesicht, der uns überall willkommener ge- 
wesen wäre, als auf dem verschneiten Eise. Doch der 
Regen hielt nur kurze Zeit an, ein Windstoss machte 
dem blauen Himmel wieder Luft und trieb die Nebel 
über alle Sättel nach Norden hinaus, um — gleich 
darauf aus Südwesten ein Schneegestöber heranzu- 
schleppen. D'rauf noch einmal die Sonne, und in der 
Folge ein beständiger Wechsel von Sonne, Regen und 
Schneegestöber während der ganzen Zeit, die wir 
brauchten, um zur Tiefe des Viescher Gletschers zurück 
zu gelangen, nämlich bis 47* ühr. Dann klärte sich 
Alles bleibend wieder auf und war wo möglich noch 
schöner als zuvor. Firne und Felsen erschienen wie 
blank gewaschen, und die ebenfalls frisch gebadete 
Sonne verlieh dem gesammten Revier einen glanzvollen 
Ton. 



Roth, Finsteraarhornfahrt. 



Irrfahrten. 

Nach beendigtem Strubel, beim Wiedereintritt des 
schönen Wetters, standen wir neuerdings am Fusse 
des Rothhornsattels und schickten uns an, den Viescher 
Gletscher zu übersetzen, um auf dem rechten Ufer das 
Aeggischhorn zu erreichen, dessen Hotel uns ein ange- 
nehmes Nachtquartier bieten sollte. Allein nachdem 
wir bei der Hauptarbeit der Gunst des Berggeistes in 
hohem Grade theilhaftig gewesen, mussten wir zum 
Schlüsse des Tages noch den tückischen Kobolden in 
die Hände fallen. Hier so wenig als zur Spitze des 
Finsteraarhorns waren meine Führer je gegangen, wir 
bewegten uns also fortwährend in einem uns Allen 
gleich unbekannten Gebiet; aber auf dieser Route 
sollte sich der Fehler rächen, den ich begangen, indem 
ich nicht wenigstens Einen meiner Führer aus der mit 
der Gegend vertrauten Dienerschaft des Grimselhospizes 
gewählt hatte, was hiermit meinen Nachfolgern als war- 
nender Wink vermerkt sei. Wie hätte ich mir's aber 
auch träumen lassen, dass der Weg zum gefiirchteten 
Finsteraarhom leichter zu finden sei, als der zum 



— 99 — 

unschuldigen Aeggischhom? Doch, so smd diese heim- 
tückischen öletscher: hat man ihrer zwanzig überwun- 
den, so will der einundzwanzigste wieder frisch studirt 
sein. 

Wir überschritten in der Diagonale den Gletscher, 
wo er sich zwischen dem Rothhom und dem nordöst- 
lichen Ausläufer der Walcher Homer hindurchzwängt, 
um von da an in rascherem Fall zu Thal zu steigen. 
Er befand sich hier auf dem Uebergange vom Firn 
zum gefesteten Eise, und seine vom soeben gefallenen 
Regen erweichte Oberfläche war mit unzähligen Schnee- 
hügelchen gekräuselt, nicht unähnlich einem von sanfter 
Brise erregten Seespiegel. Hie und da gab der lockere 
Schnee unter dem Fusse nach und liess ihn in eine 
Spalte gleiten, allein die Spalten waren schmal und 
folgUch keine ernste Gefahr dabei. Der Marsch ging 
denn auch rasch von statten, und bald befanden wir 
uns im Süden des Bothhoms, mitten im Zusammen- 
flusse des Viescher und des namenlosen Gletschers, der 
in prächtigem breitem Strom von Osten herab wogt. 
Kaum jedoch ist die Vereinigung der beiden Arme voll- 
zogen, so verengt sich das Thal, dessen ganze Breite 
der Gletscher zwischen hohen steilen Bergwänden aus- 
füllt, das Gefälle des Eises wird stärker, die Spalten 
klaffen auseinander, bald werden sie nackte meergrüne 
Schrunde, erst regelmässig die Breite des Stromes 
durchfurchend, dann unregelmässig, zuletzt wirr durch- 
einander in die Kreuz und in die Quere fahrend, dass 
man beinahe meint, einen von der Sonne des Sommers 
gelösten arktischen Meeresarm mit zerrissenen und 
vom Sturm gepeitschten grünen Stumpen zu über- 
schauen. 

Von weitem schon gewahrten wir, dass in dem 
Wirrwarr nicht durchzukommen sei, und hielten daher 



— 100 — 

an das rechte Ufer an, zu dem mehrerwähnten Aus- 
läufer der Walcher Homer, speciell zur Abdachung des 
Wannehorns. Diese Abdachung strahlt gleichsam 
föcherförmig in den Viescher Gletscher hinein, und der 
hohe Rücken des Stockes ist mit einem breiten Glet- 
scher bedeckt, der nur mit der südlichsten Spitze den 
Viescher Gletscher berührt; der Rest ist Felsen, der an 
seinem Fusse fast lauter senkrechte Wände darstellt, 
auf einiger Höhe aber grüne Flecke für die Schafweide 
bietet. Diese Weiden heissen die Trift und der über 
ihnen hangende Gletscher Triftgletscher. 

Nach der Trift war nun unser Trachten, und als 
wir am rechten Ufer angekommen waren, überraschte 
es uns sehr angenehm, sogleich einen mehr oder weni- 
ger gebahnten Fusssteig zu finden, von welchem wir als 
selbstverständlich annahmen, es sei der Weg nach dem 
Aeggischhom. Es ging munter die Steig hinauf, zumal 
das Gefühl immer ein ungemein wohlthueades ist, nach 
langer nasser Eis- und Schneefahrt den Fuss auf 
sichern Felsen und trockenes Gras oder Moos zu setzen. 
Eine gute Weile stiegen wir aufwärts, als auf einmal 
der Weg aulhörte. Vor uns in der Tiefe fiel der Fel- 
sen steil und glatt zum Viescher Gletscher ab; vor 
uns in der Höhe wälzte der Triftgletscher seine Eis- 
massen so drohend über unsern Häuptern, dass wir 
leicht begriffen, es sei über ihn nicht wegzukommen. 
Wir waren in bester Form verirrt und bissen uns 
tüchtig in die Finger. Nun wurde ich angewiesen, an 
meiner Stelle, als Pivot der folgenden Operation, ruhig 
zu verbleiben, indess die drei Führer in verschiedenen 
Richtungen aus einander gingen, um einen Ausweg aus 
der Klemme zu suchen. Der Eine ging da-, der An- 
dere dorthin, und der Dritte einen dritten Weg, wo sie 
sich Alle sehr bald aus dem Gesichte verloren. Nur 



~ 101 — 

zeitweise tauchte hier und dort Einer wieder auf. Ihre 
gegenseitige Verbindung unterhielten sie durch Zurufe 
und, wo diese nicht mehr verstanden wurden, durch 
schrille Pfiffe und gellende Jauchzer, in welchen die 
Bergleute eine Virtuosität besitzen, dass sie sich auf 
stundenweite Entfernungen verständigen können. 

Ich Pivot fand unterdessen Müsse, auf dem *' Grase 
der Trift melancholische Betrachtungen über die Wal- 
liser Bergwege anzustellen. Es war nicht das erste 
Mal, dass sie mich foppten. Vor Jahren war ich mit 
zwei Freunden ohne Führer über den Rawyl gegangen 
und glücklich nach Ayent gelangt. Der würdige Prie- 
ster des Ortes hatte uns mit gutem Muskateller und 
passablem Käse bewirthet und bis zum Bande des 
Dörfchens das. Geleit gegeben. Aufgefordert, da eben 
die Nacht hereinbrach, uns einen Jungen seiner Heerde 
als Führer nach Sitten mitzugeben, deutete er mit be- 
deutungsvollem Finger nach der Richtung des alten 
Sedunum und bemerkte mit dem Aplomb jener Sicher- 
heit, die selbst das Mysterium der unbefleckten Em- 
pfängniss nicht aus dem Sattel wirft: „Nur hier hin- 
unter, Sie können nicht fehlen, meine Herren!" Bei 
diesen Worten lüftete er sein japanesisches Pfaffen- 
käppchen und wir empfahlen uns ehrerbietigst. Wir 
glaubten Seiner Würden um so leichter, als just ein 
ganz markanter, sogar gepflasterter Weg vor unseren 
Augen lag und wir in unserer Unschuld voraussetzten, 
es werde wohl noch besser, auf keinen Fall schlechter 
kommen, je mehr wir uns der Eantonshauptstadt nä- 
herten. Sonderbare Schwärmer! Der Weg blieb recht 
gut und kenntlich etwa eine Viertelstunde lang, dann 
aber ergoss sich ein Bach auf das Pflaster, und nach 
und nach zweigten sich etliche Nebenwege ab, die theils 
parallel dem Bache führten, theils allmäUg abseits in 



— 102 — 

die Wiesen und Felder verliefen. Auferzogen in ein- 
seitigen cisalpinen Begriffen, denen zufolge ein Bach 
ein Bach und ein Weg ein Weg ist, nicht ein Bach 
ein Weg, noch ein Weg ein Bach, beschlossen wir, den 
Bach gewordenen Weg zu verlassen und eine trocke- 
nere Bahn zu verfolgen. „0, ihr Thoren!" rufe ich 
heute uns Dreien zu, „warum soll denn die ganze Welt 
über eure civiUsirte Schablone gespannt sein? Warum 
soll nicht zur Abwechselung auch einmal ein Bach 
einen Weg vorstellen können? Und bewahrt nicht ein 
solcher vor dem lästigen Staube der Heerstrasse?" — 
Ja, aber wer wird denn auch ^uf den Gedanken ver- 
fallen, einen Bach und einen Kommunikationsweg in 
ein und dasselbe Binnsal zu leiten? — „0, bei Gott 
und der Faulheit der Menschen ist Vieles mögUch." 
Kurz und gut, wir gingen beim hellsten Mondschein 
irre und gewannen die rechte Richtung erst wieder, 
als wir uns mit heroischer Verzweiflung in den Bach 
stürzten und seiner Bahn folgten, nachdem wir uns zu 
guter Stunde noch des wohlthätigen physikalischen 
Gesetzes erinnert hatten, dass das fliessende Wasser ge- 
meinigUch abwärts läuft, und es uns zuletzt einzig noch 
darum zu thun war, in's Teufels Namen das Rhone- 
thal zu gewinnen und d'runten nach der Hauptstadt 
Sitten zu fragen. Das aber war wohlgethan, denn der 

Bach führte uns schnurstracks nach Sitten. Wenn 

nun Solches in der Nachbarschaft der Residenz pas- 
siren konnte, was durfte man von dem entlegenen 
Winkel des entlegensten aller Zehnten verlangen? Der 
Weg, der uns in die Trift irre führte, war einfach eine 
jener Schäfersteige, auf welchen die Hirten ihre Thiere 
in die Weide treiben und stellenweise selbst tragen, 
um sie nachher auf den rings von Gletschern einge- 
schlossenen Eilanden ohne alle Aufsicht die ganze 



— 103 — 

Saison hindurch sich selbst zu überlassen und erst im 
Herbst wieder abzuholen. Obschon daher von einer 
überhängenden Wand ein paar neugierige Schafsköpf- 
chen sich zu uns heruntemeigten, so konnten wir doch 
darauf zählen, dass keine Hütte und kein menschliches 
Wesen in der Nähe war. 

„Hier geht's ! " rief nach langem Suchen aus weiter 
Entfernung einer der Führer, und ein Posten theilte 
die Meldung dem andern mit, so dass die kleine Ko- 
lonne bald beim Entdecker versammelt war. Es ging 
einfach den Weg, den wir gekommen waren, zum 
Gletscher zurück, allein man hatte von oben entdeckt, 
dass das nackte, zerrissene Eis irgendwo eine gangbare 
Stelle bot. 

Wir hatten glücklich die richtige Route gefunden 
und zum Ueberfluss bekräftigte uns dies nach einer 
Weile ein Zeichen auf der Moräne. Wo nämlich, aus 
der Trift kommend, ein Gletscherbach über den Felsen 
stürzt und unsere, sehr nach frischem Wasser lechzen- 
den Kehlen netzte, gewahrten wir am Boden einige 
Eierschalen und andere Reste einer kalten Mahlzeit, 
untrügliche Beweise der früheren Anwesenheit von 
Touristen, die auf dem Wege von der Grimsel zum 
Aeggischhorn hier Siesta gehalten. Die Schalen zeigten 
sich noch eine gute Weile thalabwärts an mehreren 
Stellen und dienten uns als willkommene Wegweiser. 

So trollten wir uns denn beruhigt weiter den 
grünen Strom entlang, theils auf der Seitenmoräne, 
theils auf dem nackten Eise, und es störte uns nicht, 
dass der Gletscher immer wilder wurde. Ich hatte 
unterdessen — es war sehr heiss, trotz der kühlen 
Ausdünstung des Eises — ein sonderbares Erlebniss 
mit meiner Phantasie. Die Felsenwände der Trift zu 
unserer Rechten stiegen nämlich immer höher, oder 



— 104 — 

schienen es wenigstens, und die verschiedenen Farben 
des Gesteins, feuchter und trockener Felsen, zeichneten 
gar eigenthümliche Figuren an die kalten Wände. 
Wiederholt schien es mir, ich sähe Schlösser in diesen 
Figuren, mit allenj möglichen mittelalterlichen Ge- 
thürm; ja ganze Städte stiegen auf und erregten meine 
höchste Verwunderung. Der Verstand sagte natürlich 
zum Auge, es müsse sich arg täuschen, hier horste nur 
der Adler und anderes Gewild, das Auge aber be- 
hauptete steif und fest, gerade so sehe Stolzenfels aus, 
so namentlich die rheinischen Schlossruinen, und so sei 
im Atlas das Felsennest Milianah an den Berg Jaccar 
geschmiedet. Mit der Erinnerung an Milianah stiegen 
tausend bunte afrikanische Bilder im Gedächtniss auf, 
heisse Wüstenpracht, mit welcher heut die nordische 
Gletschersonne gewetteifert. Die Sahara begann mit 
dem Aletschfim, der Beduin mit dem Hasler einen 
tollen Walpurgistanz, Gazelle und Gemse überflogen 
einander im Schnelllauf, und Strauss und Lämmergeier 
umflügelten sich. Dann kam ich allmälig den ersten 
vermeinten Schlössern nahe, das Auge musste bezeu- 
gen, der Verstand habe Recht gehabt; hier wirkten ja 
— fuhr der Verstand fort, und das Auge wusste nichts 
einzuwenden — nur graue und schwarze, trockene und 
feuchte Felsen zusammen, um ähnliche phantastische 
Gebilde zu erzeugen, wie geschmolzenes Blei oder ge- 
frorene Fensterscheiben. Half nichts. Kaum war das 
höchst natürliche Räthsel gelöst, so glaubte das Auge 
unerschütterlich schon wieder an die folgende, wo 
möglich noch unglaublichere Fata Morgana. — Und 
das Alles beim blanken hellen Tag, nicht im trüge- 
rischen Mondlichte? — Ja. Den Grund aber hat mir 
seither mein Leibarzt auseinandergesetzt. Die grosse 
Körperanstrengung — wir waren bereits die vierzehnte 



— 105 — 

Stunde während dieses Tages auf den Beinen — , das 
lange Waten im Schnee, verbunden, mit der stechenden 
Hitze, die wir vor wie nach dem Wetterstrubel auszu- 
halten gehabt, hatten mir das Blut dick und schwer, 
in den Kopf getrieben, und wenn dies auch keine 
Kopfschmerzen, noch sonstiges Weh verursachte, so 
war der anormale Prozess doch mächtig genug, die 
Sehnerven zu alteriren und dergestalt dem Auge auf 
gewisse Distanz Dinge vorzuspiegeln, die in Wirklich- 
keit nicht existirten und nach einiger Zeit von ihm 
selbst als leere Hirngespinnste erkannt wurden. Diese 
wiederholte und andauernde Täuschung war aber so 
überaus energisch, wie ich mich keiner ähnlichen erin- 
nere. Wenn in diesen Augenbhcken statt jener Schlösser 
und Städte die heilige Jungfrau von Salettes erschienen 
wäre, mein Auge hätte eben so sicher daran geglaubt, 
trotz alles verständigen Kopfschütteins. Die Phantas- 
men wichen erst jener kühleren Abendluft, die der 
Dämmerung vorauszugehen pflegt. 

Um diese Zeit jedoch bekamen wir mit greifbare- 
ren und ernsthafteren Bildern zu thun. Wir gelangten 
nämlich zu der Stelle, wo der Triftgletscher zum Vie- 
scher Gletscher herunterstürzt. Der Sturz erfolgt in 
wilden Sätzen, dass es uns von ferne schien, dort sei 
nicht durchzukommen. Der Viescher Gletscher seiner- 
seits aber sah gleichfalls sehr verworren aus. Der 
Kuckuk mochte wissen, wo wir hingerathen waren, 
und zum Unstern neigte sich der Tag recht sichtlich 
seinem Ende entgegen. Obschon wir eigentlich gar 
nicht sehr fehl waren, sondern nur an einer jener 
trügerischen Gletscherstellen, wo man den Weg erst 
suchen muss und zuweilen da den sichersten findet, wo 
die Sache am schrecklichsten aussieht, so glaubten wir 
uns gleichwohl aut's Neue verirrt und hielten bedenk- 



— 106 — 

liehen Bath. So viel erschien bereits als ausgemacht, 
dass wir unter sothanen Umständen schwerlich vor 
Mittemacht zum Aeggischhorn hinauf gelangen wür- 
den, und ein Jeder machte sich im Stillen auf die 
Annehmlichkeiten eines zweiten Bivouaks gefasst. 

Uns auf die weitere Sucharbeit zu stärken, mach- 
ten wir eine kurze Bast und packten den Proviant 
aus, der den allerseits leeren Mägen zu statten kommen 
sollte. Entsetzen! Der letzte unserer Schaf braten 
war lebendig geworden, eine unzählige Menge von 
Maden und Würmern kroch aus dem fauligen Fleisch 
an's Tageslicht, um uns schönen guten Abend zu 
wünschen. 

— Pfui Teufel, Menk! schmeiss ihn weg. 

Menk aber schaute das Gewürm und den Braten 
gründUch an, er untersuchte genau, ob nicht doch noch 
irgendwo ein appetitlicher Fleck aufzutreiben sei, und 
erst als er auch gar nichts fand, schüttelte er unwillig 
den Kopf und schleuderte den Schlegel mit einem 
kräftigen „Donnersdonner" in die nächste Gletscher- 
spalte. Nach diesem Verluste waren wir auf den 
durstmachenden Käse und eine sehr magere Bation 
Schinken reducirt; das musste auf vier strapazirte 
Mann für Abend und Morgen ausreichen. 

Es war kein Spass, ungesättigt nach langem 
Fasten, ermüdet von der Arbeit des Tages, beunruhigt 
durch die Ungewissheit unserer Lage, schnurstracks in 
den Gletscher hinein zu steuern, um wo mögHch gerade- 
wegs über den Eisstrom noch vor Einbruch der Nacht 
das jenseitige Ufer zu erreichen, wo die Beschafifenheit 
der Bergausläufer versprach, uns am ehesten wieder zu 
menschlichen Wohnungen zuführen. Im letzten Punkte 
würden wir uns auch nicht verrechnet haben, hätte 
uns der Gletscher so schnurstracks durchgelassen, wie 



— 107 — 

wir wünschten. Der war aber ein tückischer Kamerad. 
Erst ging es prächtig auf dem nackten Eise vorwärts. 
Wiesen auch die vielen Spalten tiefe und wüste Ab- 
gründe, so waren sie doch meistens schmal genug, um 
in einem Satz übersprungen werden zu können; und 
wo sie hieflir zu breit waren, da bot sich immer wie- 
*der ein Quergrat zu Diensten. Nach und nach aber 
geriethen wir tief in die Eiswildniss hinein, die Spalten 
gähnten immer breiter, schon musste da und dort das 
Beil zur Hand genommen werden, und statt von oben 
in die Spalten hinunter, begannen wir nach und nach, 
ohne dass man sich's dessen versah, von unten herauf 
nach kleinen Eisbergen emporzublicken und sie mit 
Hülfe des Beils zu erklimmen, um zuletzt die Ent- 
deckung zn machen, dass an diesen Stellen nicht weiter 
zu kommen sei. Wohl zehn und zwanzig Mal wurden 
dergestalt unsere Angriffe durch die helle Unmöglich- 
keit zurückgeschlagen. Die Ruhe, mit welcher wir an- 
fänglich in solchem Falle nach einer besseren Fürth 
spähten, machte nach und nach dem Aerger Platz, und 
der Aerger wuchs unvermerkt zu gelinder Wuth an. 
Sie äusserte sich in allerlei Kraftausdrücken und in 
einem permanenten Laufschritt, der hie und da auch 
ein verwegener war; denn ich bin heute noch über- 
zeugt, dass wir bei nüchternem Blute manch' eine 
Spalte sorglich umgangen haben würden, welche jetzt 
in der Aufregung der Besorgniss, die der sinkende 
Abend von Minute zu Minute steigerte, als selbstver- 
ständlich übersprungen wurde. Aber freilich, die Wuth 
stampft gern, und ein derbes Auftreten auf schlüpfrigem 
Gletschereis ist eine Grundbedingung der Sicherheit. 
Mir selbst begegnete es, dass ich in der zweiten und 
dritten Stunde keine Gefahr mehr kannte, wo ich in 
der ersten Stunde fast ängstlich zu Werke gegangen 



— 108 — 

war und mehr als einmal gestrauchelt hatte. So 
macht auch in grösseren Dingen die Schlachtwuth 
tapferer, wenn das Geschäft im Gang ist und die Nase 
erst Pulver gerochen hat. 

Wie? — fragt Ihr — in der zweiten und dritten 
Stunde, sagtest du eben? — Ja wohl, und der Himmel 
weiss, wie das zuging. Allein zwei volle Stunden 
waren wir im Gletscher oder, deutlicher gesprochen, in 
dem Strudel von unzähligen Eisbergen herumgesteuert, 
ohne die gehoffte Durchfahrt zu finden, und die Uhr 
zeigte die achte Abendstunde, die Bergspitzen ver- 
hauchten ihr letztes Both, sie erblassten, die Nacht 
senkte sich auf das enge wilde AlpenthaL Wir aber 
Stacken noch mitten im Gletscher. Es war die höchste 
Zeit, aus dem Labyrinthe hinaus zu kommen, in wel- 
cher Eichtung immer es sei, wenn wir nicht Gefahr 
laufen wollten, die Nacht auf dem nackten Eise zu- 
bringen zu müssen. Jetzt ergriff auf mein bestimmtes Ge- 
heiss Kaspar, der bis dahin den Andern die Zügel zu frei 
gelassen, den unumschränkten Oberbefehl und leitete 
die Kolonne in rückwärtiger Bichtung, aber ebenfalls 
nach dem linken Ufer hin, wo der Gletscher ein 
weniger wildes Aussehen hatte. Bereits musste sich 
die Mannschaft wegen der eingebrochenen Dunkelheit 
nahe beisammen halten, damit uns Keiner verloren 
ging. Anfangs wurden noch mehrere arge Schrunde 
übersprungen und überklettert, dann aber gestaltete 
sich der Strom zahmer, und als die dritte Stunde 
dieser Irrfahrt auf dem Gletscher noch nicht ganz 
abgelaufen war, erreichten wir höchlich beruhigten 
Gemüthes die Moräne des linken Ufers an den Ab- 
hängen des Setzenhoms. 

Weiter wurde auf der holperigen Moräne mar- 
schirt, welche die Sohle einer engen Schlucht bildete, 



— 109 — 

wo die Eiswände des Gletschers ziir Rechten und die 
finstem Felsenwände des Berges zur Linken dem 
Lichte des Sternenhimmels beinah' keinen Zutritt ge- 
statteten. Wir hielten da unsere Blicke in einem fort 
spähend nach dem Felsen gerichtet, entschlossen, die 
erste auch nur einigermassen thunliche Schlafstelle 
zum Ziele der heutigen Wanderung zu wählen. Mich 
aber hatte unterdessen ein brennender Wasserdurst 
gepackt und ich schaute vergebens nach einem laben- 
den Tropfen aus. Oft glaubte ich vor mir einen 
Schneefleck zu sehen, ich eilte auf ihn zu, streckte 
gierig die Hand aus, um den lechzenden, von 
Wein und Kirsch völlig angeekelten Gaumen zu er- 
frischen: es war jedesmal trockener, verstaubter Mo- 
ränekoth. 

Endlich, nach 9 Uhr Abends, also nachdem wir 
17 Stunden marschirt waren, stieg die Moräne zu einer 
Stelle hinauf, wo der Felsen überhing und dadurch eine 
halbe Höhle gestaltete. Hier beschlossen wir die 
Nacht zu verbleiben. Mir ward grossmüthig die höhlen- 
artige Vertiefung abgetreten, und einer der Führer 
kauerte sich hart an mich heran, um den Rest des 
geschützten Flecks zu erhaschen; die beiden Uebrigen 
aber betteten sich, so gut oder schlecht es eben gehen 
wollte, auf den trockenen Gletscherkoth. Bevor wir 
ims hinstreckten, war der brave Menk noch eine 
Strecke vorwärts nach frischem Wasser ausgegangen, 
er kehrte jedoch nach wenigen Minuten mit der Mel- 
dung zurück, da vorne gähne ein weiter Schrund, an 
den man sich bei der Dunkelheit nicht wagen dürfe, 
und was hinter diesem stecke, wisse der Himmel. Ich 
that aus Verzweiflung noch einen derben Schluck aus 
der Weinflasche, streckte mich in die Höhle, zog die 
Wolldecke über die Ohren und verfiel rasch in einen 



— 110 — 

erquickenden Schlummer. Die üebrigen thaten des- 
gleichen. Zu essen hatte Keiner verlangt, obschon wir 
AUe sehr hungrig waren. Wir waren äxmer an Pro- 
viant als hungrig, und müder als arm; die geistige 
Aufregung der letzten drei Stunden hatte uns sehr 
ermattet, so dass Niemand etwas Anderes mehr suchte, 
als Buhe und Schlaf. 



Schluss. 

Die Fahrt ist zu Ende. Ich erwarte getrost, dass 
der Leser uns entschuldigt, wenn er erfahrt, dass wir 
am Morgen des 1. August, nach einer durchmarschirten 
und zwei im Felsenbivouak durchfrorenen Nächten und 
nach zwei angestrengten Tagemärschen im Gletscher, 
die Heimkehr zur Menschheit vollzogen. 

Früh 4 Uhr, nachdem der letzte Rest unseres Pro- 
viants mit Heisshunger vertilgt worden, brachen wir 
auf, kletterten noch eine geraume Zeit über die Mo- 
räne, dem Gletscher entlang, stiegen dann an der 
Jännialp empor und nahmen von ihrer Höhe weg, 
welche eine schöne Aussicht über etliche Dörfer des 
oberen Rhonethals öflfnete, die Richtung nach Viesch. 
Es war wieder ein glänzender Tag aufgegangen, und 
drüben hoch über dem Viescher Gletscher schimmerten 
die weissen Mauern des Aeggischhom-Hotels in der 
Morgensonne. Der Tag war aber auch früh schon 
heiss, und die Hitze, sammt der von den vorangegan- 
genen Tagen ererbten Müdigkeit schlug mir empfind- 
lich in die Kniee, als es von der Alphöhe die lange 



— 112 .— 

Steig nach dem Viescher Thal hinunter ging. Wie 
viele Kirschen wir da im Vorbeigange von den Bäu- 
men stipitzt, verrathe ich nicht. Um 9 ühr Vormit- 
tage erreichten wir Viesch, 57 Stunden nach dem Ab- 
marsch von Innertkirchen. 

Die Fahrt war eine anstrengende; allein weit, weit 
über alle Mühen hinaus reichte der Genuss und reicht 
die Erinnerung an die erschlossenen Herrlichkeiten. 

Dem Finsteraarhom ist längst der Zauber der 
Unnahbarkeit genommen, und die nicht mehr seltenen 
Ersteigungen seines Gipfels werden ihn bald auch zu 
einem nicht mehr gefiirchteten machen. Allein der 
wundervolle Berg verHert nichts dabei, wenn er nach 
und nach ein Gemeingut der Männer wird, deren 
stolzes Bestreben es ist, in der schwellenden Luft der 
Firne aus dem Urquell des Lebens zu schöpfen und 
auf hoher Alpenzinne dem Weltgeist nahe zu treten. 
Wie dieser Berg bis vor Kurzem einer der gemieden- 
sten Kulme war, so wird er eines Tages vielleicht einer 
der gesuchtesten sein und sicherlich nichts an Gross- 
artigkeit einbüssen, wenn Wissenschaft, Kunst und 
Poesie sich seiner Schätze bemächtigen. So fliehen auf 
allen Gebieten menschlichen Thuns die Schrecken der 
Finstemiss und des Aberglaubens scheu zurück vor dem 
Wissen und dem Muthe der Neuzeit. Die Furchtbar- 
keit des Finsteraarhorns ist begraben, seine Schönheit 
geht auf. 



Droek ron Gebrttder Ksti in Dessau. 




// V 




2A Tlfierbery 

9£ (matenhorri' 
97 Obemarfwmy 

2S Studerhorw 
A Oheraarjoeh 
B BothhomscüUd 
C Grünharnliiche 
- Marschroale 
dß^Verjussers 



/ Finstenuirhoi^' 
? AjfiLssixhom 

3 Grosses Mescherhorvy 

4 VUs<^er6r(it 
J Manch 

6 Jungfmuy 

7 Ghiscktrhorrv 

8 Ahist^horrv 

9 Vlesdierhörner 
iOKdfnrn 

U Warmthvrw 
f 2 Tri/t 

ß Fif^ischkorrt 
i4^ Selxenhorrv 

15 Wa^eTtharny 

16 WalÜserBäiklufTfiy 

17 BemerRaihhorth 

18 Laffelharrv 

19 Gesehener Stock 

20 UlTi4^jer St4jck^ 

2^ Grosses Sidelham 
2Z Zütkjenstoek/ 
23 Srünber^ 



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